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Die Krise des Wir

Es gibt eine Krise des Wir, die mit den sozialen Medien zusammenhängt. Der Demokratie mangelt es an einer gemeinsamen Basis, auf der sich streiten ließe.

Auf den Tag vor einem Jahr wurde Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt. Als Reaktion darauf erlaubt Twitter seit heute 280-Zeichen-Nachrichten. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als hingen diese beiden Weltentscheidungen nicht zusammen. Zoom hoch in die Google-Earth-Perspektive.

Was sich im Vergleich zum auslaufenden 20. Jahrhundert vielleicht am stärksten geändert hat – ist das verlorene „Wir“. Es gibt eine Krise des Wir. Adorno schrieb: „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ‚ich‘ sagen.“ Das war durchaus abschätzig gemeint. Ein Begriff wie „Pack“, der interessanterweise in Deutschland wie in den USA (als „Deplorables“) Eingang in die politische Diskussion gefunden hat, ist ein fernes Echo dieser Abschätzigkeit. Im 21. Jahrhundert gilt: Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ‚wir‘ sagen. „Uns geht es doch gut“, spricht sich leicht, wenn man aus diesem ‚wir‘ Alleinerziehende ausschließt, die zu fast 40 Prozent Hartz IV beziehen müssen – oder die Hunderttausenden Soloselbstständigen, die mit einem realen Stundenlohn unter fünf Euro und ohne Altersvorsorge zurechtkommen müssen.

Wer ist mit „wir“ gemeint?

Die Krise des Wir hat viele Ursachen und bahnt sich seit Jahrzehnten an, schwindende Solidarität, Generationenkonflikte, fehlende Konzepte des Ausgleichs der Globalisierungseffekte von Migration bis Wohlstandsverteilung. Die Paradise Papers in ihrer schmerzhaften Unüberraschendheit zeigen zuallererst, wie die dunkle Seite der Globalisierung dabei hilft, Gemeinwohl auszuhöhlen. Wenn Angela Merkel ‚wir‘ sagt, dann fühlen sich enorm viele Menschen in diesem Land nicht mitgemeint. Nicht zuletzt, weil sie faktisch oft nicht mitgemeint sind. Bei den gesellschaftlichen, politischen Aspekten der Krise des Wir kommen die sozialen Medien ins Spiel. Die etwas versprochen hatten: „Die Welt näher zusammenbringen.“ So lautet die Mission von Facebook. Im Kleinen, Persönlichen, Alltäglichen hat das gut funktioniert. Im Großen haben soziale Medien, allen voran Facebook und Twitter, eher für Polarisierung gesorgt. Präziser: Soziale Medien haben eine zuvor seltener sichtbare Polarisierung offenbart. Polarisierung aber gehört zu den Phänomenen, die um so größer werden, je sichtbarer sie sind: Wenn zwei Gruppen sich lautstark abgrenzen, wird das Verlangen der Umstehenden größer, auch Partei zu ergreifen. Denn soziale Medien sind dazu gemacht, Emotionen zu schüren und Meinungen zu melken, deshalb ist Facebook vermeintes Gelände.

Der Notstand des öffentlichen Wissens

Nicht, dass jede Form von Polarisierung schlecht wäre, im Gegenteil. Pluralismus ist als öffentlicher Wettstreit verschiedener Haltungen für eine liberale Demokratie essenziell. Aber es braucht als Basis eine gewisse Grundeinigkeit, ein Fundament unbestrittener Fakten, auf dem sich sinnvoll streiten lässt: eine gemeinsame Realität. Die heutige Polarisierung scheint mir dieses Fundament verlassen zu haben. Das Beispiel Trump zeigt: Der Aufbau einer Parallelrealität durch Murdochs Fox News und soziale Medien im Verein kann eine liberale Demokratie beschädigen. Vielleicht sogar zerstören. Einer der interessantesten Texte zur politischen Gegenwart fragt: Was, wenn Sonderermittler Robert Mueller nachweist, dass es zwischen Trump und Russland geheime, kriminelle Absprachen gab – und es hätte schlicht keine Folgen? Die Rede ist von einer „epistemic crisis“, von einem Notstand des öffentlichen Wissens. Vor allem die radikal Lobby-getriebenen Republikaner arbeiten seit langer Zeit gezielt an der Abschaffung des öffentlichen, gemeinsamen Wissensfundaments. Auch nachrichtliche Haltung der klassischen Medien spielt dabei eine Rolle. Vom Drehbuch-Genie Aaron Sorkin ist der Gag überliefert: „Wenn die gesamte Fraktion der Republikaner darauf beharrt, dass die Erde eine Scheibe sei, steht am nächsten Tag in der „New York Times“: ‚Demokraten und Republikaner sind uneinig über die Form der Erde‘.“

Das Zitat weist auf die Verbindung von Politik und öffentlicher Meinung hin. Wenn man alles erfolgreich anzweifeln kann, muss man niemals Konsequenzen ziehen. Es wird egal sein, was Trump gemacht hat oder noch macht – wenn nur ausreichend viele Leute davon überzeugt sind, es sei richtig oder nicht falsch oder halbwegs akzeptabel oder wenigstens immer noch besser als Hillary Clintons theoretische Aktionen. So wirkt die Verbindung aus Politik, sozialen und redaktionellen Medien, denn letztlich funktionieren liberale Demokratien zwischen Wahlen vor allem über Debatten und über öffentlichen Druck. Das ist, etwas vereinfacht, Habermas‘ Theorie der „deliberativen Demokratie“: produktiver Streit. Durch die Krise des Wir, die Erosion einer gemeinsamen Basis – ist der produktive Teil des öffentlichen Streits in Gefahr. Wenn jeder öffentliche Druck durch gesellschaftliche Polarisierung einen Gegendruck erzeugt – dann werden selbst nachweisbare Fakten zu Fragen des Gruppenbekenntnis und damit zu Meinungen degradiert. Lasst uns einfach per Facebook-Voting klären, ob der Mond aus Käse ist!

Natürlich ist die Abgrenzung zwischen faktischer Realität und Meinung nicht so einfach, wie Populisten suggerieren. Es handelt sich dabei auch nicht unbedingt um eine urlinke Spezialität, weil Linkssein bedeutet, auf eine gemeinschaftliche, nicht-ausschließende Vision hinzuarbeiten. Und dabei vermischen sich leicht die vermessbare Gegenwart und das angestrebte Wunschszenario. Auch die Linke lässt gern Fakten weg, die nicht geschmeidig ins Weltbild einfügbar erscheinen. Aber die Erschaffung einer kompletten Parallelrealität mithilfe sozialer Medien ist heute eine rechte und rechtsradikale Spezialität. Social Meinungsmache, in der nicht nur einzelne Fakten ausgeblendet werden. Sondern ausschließlich akzeptiert wird, was in den Kram passt. Von der Krise des Wir zur vollständigen Ablehnung einer gemeinsamen Wissensbasis, zur Hinwendung zum Irrsinn Marke Trump. Evidenz ist egal.

Irrsinn? Egal, Hauptsache von der richtigen Seite

Die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative, hat in ihr offizielles Selbstverständnis den Satz geschrieben: „Auch mutige, fragwürdige oder irrsinnige Meinungen verdienen es, gehört zu werden.“ Das steht da wirklich, ich habe es mir nicht ausgedacht, irrsinnige Meinungen sollen gehört werden. Das ist gleichzeitig absurd und verräterisch, denn natürlich ist man bei der Jungen Alternative nicht bereit, ernsthaft über Meinungen zu diskutieren, die sie selbst als „irrsinnig“ betrachten. Wie Feminismus, Behinderten-Inklusion oder Antifaschismus. Es geht vielmehr darum, die realitätsaversen Ansichten in den eigenen Reihen zu legitimieren: Du glaubst, Soros finanziert der jüdischen Echsenkanzlerin die Umvolkung per Chemtrail? Klar, lass uns drüber diskutieren, solange du unsere Seite verstärkst – gegen die anderen. Gegen die linksradikalen Globalisten wie Merkel und De Maizière.

Hier ist der Zusammenhang zwischen Krise des Wir und sozialen Medien: Selbstverständlichkeiten erscheinen vielen Menschen nicht oder nicht mehr selbstverständlich, und inzwischen können sie sich zur gegenseitigen Bestärkung sehr viel leichter vernetzen. Eine destruktive Dynamik des digitalen Dissenses ist entstanden.

Soziale Medien sind in den letzten zehn Jahren zur gesellschaftlichen Normalität geworden. Eine jüngere Untersuchung zeigt, dass fast 80 Prozent der Menschen Familie und Freunde an den „Meilensteinen ihres Lebens“ am ehesten über soziale Medien teilhaben lassen. Social Media ist dabei beliebter als persönliche Treffen. Es kann gar nicht mehr sinnvoll um „Soziale Medien – ja oder nein?“ gehen, ebensowenig wie man „Elektrizität – mitmachen oder bleiben lassen?“ ernsthaft diskutieren kann. Das Internet ist zum Teil der Gesellschaft geworden und umgekehrt. Aber das heißt auch, dass man umso dringender über Wirkung und Verantwortung sozialer Medien forschen, diskutieren und demokratisch mitentscheiden muss.

Deshalb taugt die Zeichenerweiterung von Twitter so hervorragend als Symbol: In Zeiten politischer Beeinflussung via Social Media, von Hyperpolarisierung und Debattendysfunktionalität – zieht sich Twitter zur Lösung der Probleme zurück und kommt wieder mit 280 statt 140 Zeichen. Das ist nicht bloß die falsche Lösung, das ist die falsche Lösung des völlig falschen Problems. Als würde man in einem brennenden Haus den Flur neu streichen. Twitter hat Twitter nicht verstanden. Facebook hat Facebook nicht verstanden. Wir alle haben die gesellschaftliche Wirkweise und Wirkmacht sozialer Medien noch nicht begriffen. Und vor allem wissen wir noch nicht, wie Öffentlichkeit in Zeiten sozialer Medien, in Zeiten der Krise des Wir so funktioniert, dass sie die liberale Demokratie stützt und nicht stürzt.

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