
Deutschland, das Gelobte Land des Dinglichen
Manchmal reicht die stückchenweise Verbesserung des Bestehenden nicht aus. Weil Deutschland das nicht verstehen will, gibt es jetzt einen Dieselgipfel. Zukunftsweisend wäre eine andere Veranstaltung.
Wenn heute der Dieselgipfel zur deutschen Automobilwirtschaft stattfindet, dann ist er das Gegenteil von dem, was eigentlich stattfinden sollte: ein Digitalgipfel. Das rissige Fundament der deutschen Automobilwirtschaft wird sichtbar, die Versäumnisse, die Lügen – aber es handele sich auch um ein Symbol der ungeheuren Innovationskraft Deutschlands. Äh, wie jetzt?
Das digitale Zeitalter hat (erneut) gezeigt, dass es zwei wesentliche Formen der Innovation gibt: inkrementelle Innovation, also die Verbesserung der bestehenden Konzepte. Sowie disruptive Innovation, also die Erneuerung durch einen Bruch mit bestehenden Konzepten. Und obwohl „Disruption“ und „Innovation“ Begriffe sind, die durch häufige, ahnungsarme Verwendung keine ernst zu nehmende Person mehr ohne allergische Reaktion am Stirnlappen hören kann, macht das diese Muster nicht völlig falsch.
Die deutsche Industrie ist so herausragend in der stetigen Verbesserung des Bestehenden, dass sie fast automatisch dazu neigt, grundsätzliche Erneuerung abzutun. Das ist oft über längere Zeit ökonomisch sinnvoll. Aber irgendwann eben nicht mehr.
Deshalb hat ein kalifornisches Start-up 2017 die beste Ladeinfrastruktur für Elektroautos in Deutschland, obwohl aus den neun Millionen Straßenlaternenlängst neun Millionen Ladestatiönchen hätten werden können. Deshalb sind deutsche Autos überall gefragt und deutsche Elektroautos nirgends. Kriminelle Energie wie bei Betrugssoftware und politische Verstrickung kommen bloß ergänzend hinzu.
Ein Experiment, das die Idee der E-Mobilität weit zurückwarf
Um die Hintergründe des aktuellen Dramas der deutschen Automobilindustrie zu verstehen, bietet es sich an, nach Rügen zu schauen. Dort fand von 1992 bis 1996 die „Erprobung von Elektrofahrzeugen der neuesten Generation“ statt. Es war der seinerzeit größte und umfassendste Elektroauto-Test weltweit.
Unterstützt vom Forschungs- und vom Umweltministerium nahmen teil: VW, Mercedes-Benz, BMW, Opel, Fiat und der Nutzfahrzeughersteller Neoplan. Man „demonstrierte eindrucksvoll die technologische Führung Deutschlands auf dem Gebiet der Elektromobilität“, so der Bundesverband Elektromobilität 2011. Das allerdings ist die rückwirkende Betrachtung.
Die öffentliche Wahrnehmung direkt danach sah anders aus. Gegenüber der staunenden Presse ließ man durchblicken, Elektroautos seien leider eher alltagsuntauglich, unzuverlässig und dazu noch umweltschädlicher als Verbrenner. „Experimente können auch schlecht ausgehen“, schrieb „Bild der Wissenschaft“ 1997.
Der Rügener Versuch sollte nicht gelingen, scheint es
Meine These: Dieser Versuch, der das Schicksal der Elektromobilität in Deutschland auf Jahrzehnte beeinflusste, konnte oder sollte nicht gelingen. Er sollte zumindest auch die Überlegenheit des Verbrennungsmotors beweisen.
Schon das Wording der Bundesregierung schien merkwürdig: „Schonungslos“ sollte die Leistungsfähigkeit von Elektroautos offengelegt werden. Hört sich nicht gerade ergebnisoffen und zukunftszugewandt an. Das Bundesumweltamt schrieb zum Rügener Versuch: „Für die Kosten einer Elektroautobatterie bekomme ich heute schon 40 Super-Kats.“ Ein solcher Katalysator dient der Abgasnachbehandlung – bei Verbrennungsmotoren.
Auch die Durchführung des Tests ließ zu wünschen übrig: Die eingesetzten Elektrofahrzeuge waren umgerüstete, schwere Verbrenner und keine elektro-optimierten, leichteren Fahrzeuge. Die Batterien lud man mit Kohlestrom auf und setzte zum Teil auf energetisch ungünstige Batteriekonzepte. Insgesamt ergab die Auswertung somit wenig überraschend eine schlechte Umweltbilanz.
Das alles muss nicht Absicht gewesen sein, nicht hinter jeder Unregelmäßigkeit steckt gleich eine Verschwörung. In der Folge fiel aber durch den vorgeblichen Fehlschlag der Druck, die dringend nötigen besseren Akkus zu entwickeln. Das generelle Fazit – Diesel statt Elektro – lässt sich auch ganz verschwörungslos erklären, mithilfe deutscher Innovationskraft und dem größten deutschen Vermögen überhaupt, also dem Beharrungsvermögen.
Deutschland hat nur beim Verbrennungsmotor die Nase vorn
Der große Technologievorsprung der Autohersteller des Landes bezieht sich nämlich primär auf den Verbrennungsmotor. Fällt er weg, bleibt die Marke und das deutsche Auto-Cockpit, ein Überbleibsel des 20. Jahrhunderts, voll mit Knöpfen, Drehschaltern, einem Touchscreen, der sich anfühlt wie ein Bankautomat in den Neunzigerjahren und einer Zumutung namens Sprachsteuerung, deren häufigster Satz ist „Ich habe Sie nicht verstanden“.
Die Verbrennungsmotor-Fixierung hat zudem eine soziale Komponente, die Komplexität von Elektromotoren ist so viel geringer, dass sowohl bei den Autokonzernen wie auch bei Zulieferern unglaublich viele Arbeitsplätze bedroht wären.
Deshalb tut sich die deutsche Politik so schwer mit der Umstellung. Und wegen der irritierend engen Verflechtung von Politik und Automobilwirtschaft natürlich. Meistens sind die Dinge eben nicht monokausal. Trotzdem steht hinter dem heutigen Zustand der Autoindustrie – aktuell höchst erfolgreich, aber durch Skandale, Betrügereien und verschlafene Marktentwicklungen mit fraglicher Zukunft – ein sehr deutsches Prinzip.
Deutschland ist das Gelobte Land des Dinglichen. Das Virtuelle wird tendenziell gering geschätzt. Schon zu erkennen an den bizarren digitalen Benutzeroberflächen deutscher Automobile mit einer Usability wie von klingonischen Sadisten erdacht.
Zukunft des Autos statt Autos der Zukunft
Der Dieselgipfel ist ein Fanal mangelnder Digitalität des Landes. Ein Symbol des Unvermögens, den Wert der Erneuerung gegenüber dem der Verbesserung zu erkennen. Mit allen Mitteln sollte die schwindende Ära des Verbrennungsmotors verlängert werden. Denn was danach kommt, ist nicht bloß ein anderer Antrieb. Der Elektromotor ist nur ein wichtiges Puzzlestück.
Das große Bild ist ein anderes gesellschaftliches Mobilitätskonzept, das auf digitaler Vernetzung beruht. Wenn der Wille da wäre, wenn die Erkenntnis durchdränge, dass jetzt nicht mehr die Verbesserung, sondern nur noch die Erneuerung hilft. Und dass – je länger man wartet – die sozialen und umweltlichen Folgen um so gravierender und weniger gut abzufedern sind. Dann wäre das kein Diesel-, sondern eben ein Digitalgipfel.
Denn es geht nicht um das Auto der Zukunft, sondern um die Zukunft des Autos, und die ist eine vernetzte Software. Es gibt dazu auch in der deutschen Automobilindustrie gute Konzepte wie Car2Go (Daimler) und Drive Now (BMW), aber sie werden zu gering geschätzt, kleingerechnet oder nur als Bedrohung wahrgenommen. VW hat sogar eine Entsprechung namens Quicar derart halbherzig verfolgt, dass es Anfang 2016 eingestellt werden musste. Gruß aus Rügen. Und von der Frau, die als Umweltministerin das Forschungsprojekt Elektromobilität auf Rügen miteröffnete. Ihr Name: Angela Merkel.