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Der neue Assistent von Google ist schlau, mächtig und gruselig

Mit den neuen Google-Produkten wird einiges anders: Bald benutzt man keine Apps mehr, sondern überlässt einem digitalen Assistenten die Arbeit. Damit das klappt, muss der das eigene Leben durchleuchten.

Es dürfte, auf den zweiten Blick, einer der peinlichsten Momente der jüngeren Tech-Geschichte sein. Bei der Vorstellung des neuen Smartphones von Google, Pixel, fasst der Verantwortliche die wichtigste vorgestellte Neuerung zusammen: „Und das war ein kurzer Eindruck davon, wie der Google Assistent funktioniert.“ Jubelschreie und Geklatsche sind im Hintergrund zu hören – aber zugleich zieht die Kamera auf.

So erkennt man, dass die ersten zehn Reihen des verstörend turnhallenhaften Auditoriums aus Journalisten bestehen, von denen niemand klatscht. Der Blick starr in den Laptop, die Kamera in der Hand, der Jubelfaktor nullkommanull. Es handelt sich um die zweifellos unbegeistertste Crowd seit Steve Jobs‚ Erfindungder als Produktvorstellung getarnten Tech-Predigt. Und zugleich begreift man, dass die im Hintergrund Klatschenden Google-Mitarbeiter und -Fans sind, die den Sound eines begeisterten Publikums simulieren sollen.

Das vorgestellte Produkt aber ist alles andere als peinlich, sondern ein erster Ausblick auf das kommende Schlachtfeld der Technologie-Konzerne: künstliche Intelligenz (KI). Oder besser formuliert: das, was man gegenwärtig unter der sich ständig wandelnden Zuschreibung künstliche Intelligenz vermarktet.

Ein Problemlösungsversprechen

Schon der Begriff Intelligenz ist nicht unbedingt präzise definierbar, und die Einschränkung „künstlich“ macht es nicht einfacher. Man ist daher gut beraten, künstliche Intelligenz im Alltag weniger als eigenes Genre oder gar als eigene Technologie zu betrachten – sondern als Problemlösungsversprechen.

Künstlich intelligent erscheint immer die Technologie, zu der nach heutiger Vorstellung Maschinen nicht in der Lage sind. Deshalb galten früher auch technische Anwendungen als KI, die heute in großer Selbstverständlichkeit als normaler technologischer Fortschritt wahrgenommen werden, zum Beispiel Big Data (Mustererkennung in großen Datenmengen). Oder Schachcomputer, deren Erfolge (Kasparow vs. Deep Blue, 1996) als weltverändernde Siege der künstlichen Intelligenz wahrgenommen wurden. Na ja.

Der in kommende Geräte eingebaute Google Assistent aber weist auf eine neue Marketingdefinition von künstlicher Intelligenz“ hin. KI wird zum Betriebssystemund zum Interface der gesamten digitalen Sphäre. Das Problem, das so gelöst werden soll, ist die heutige Überkomplexität und Fragmentierung der digitalen Welt.

Ein Lied transferieren? Eine Riesenaufgabe!

Zwar haben die Leute ein halbes Dutzend vernetzte Geräte und noch viel mehr digitale Dienste und Anwendungen, mit denen sie ihr digitales Leben gestalten. Aber die dysfunktionale Bruchstückhaftigkeit wird immer wieder deutlich, zum Beispiel wenn man ein Foto oder ein Lied von einem Gerät auf ein anderes transferieren möchte. Oder wenn man versucht, die noch beschämend unsmarten Smart-Home-Anwendungen nach den Maßstäben der Menschenwürde benutzbar zu konfigurieren.

Die heutige Tech-Landschaft ist für Endkunden durch ein massives Missverhältnis gekennzeichnet: Die theoretischen Möglichkeiten sind enorm, deren praktische Umsetzung ist aber oft so kompliziert und verstiegen, dass man als Nicht-Nerd meistens chancenlos ist. Ja, vermutlich könnte man die tolle Smartwatch wohl so einstellen, dass sie Alarm schlägt und eine E-Mail-Warnung an vordefinierte Personen versendet, wenn der Puls einen bestimmten Wert unter- oder überschreitet. Irgendwie.

Aber die zerfaserte, beschämend schlecht durchsuchbare, digitale App-Welt steht im Weg. Denn Apps sind heute unverbundene Einzellösungen für vorher klar verstandene Einzelprobleme. Und auch das nur im Idealfall.

Apps werden verbunden

Genau hier setzen Technologien wie der Google Assistent künftig an, egal ob sie Siri (Apple), Cortana (Microsoft), M (Facebook) oder Alexa (Amazon) heißen. Sie sollen in der Lage sein, die meist unwissentlich vermisste Verbindung zwischen den vielen Apps und Anwendungen herzustellen, die das digitale Leben bestimmen, und diese Verbindungen zu automatisieren. Und das hat weitreichende Folgen.

Die Ära des „There’s an app for that“, die die Multifunktionalität des Übergeräts Smartphone begründet hat, neigt sich langsam auf besondere Weise dem Ende zu. Im eingangs verlinkten Video lässt der Präsentator den Google Assistenten einen Tisch in einem Restaurant reservieren. Das wiederum geschieht zwar mit der Anwendung „OpenTable“ – das spielt aber gar keine Rolle, es hätte auch jede andere App sein können. Genauer gesagt, jede App, die der Google Assistent für geeignet hält.

Und da liegt der nächste verborgene Schatz für die großen Digitalkonzerne, der im Moment den Namen „künstliche Intelligenz“ verwendet, aber vor allem aus Spracherkennung und der beschriebenen Verknüpfung vorhandener Anwendungen besteht: Sprache als Interface verschiebt die ökonomische Macht dramatisch in Richtung der Plattformen.

Wie eine sprachfähige Mehltauschicht

In der komplizierten und vielschichtigen App-Welt begegnet man jeder Alltagsaufgabe mit einer eigenen App. In der kommenden, dialoggesteuerten Netzwelt sollen sich digitale Assistenten wie eine sprachfähige Mehltauschicht über alles Digitale legen. Man benutzt keine App mehr, man lässt den Assistenten eine App benutzen. Das funktioniert aber nur, wenn eine Reihe Entscheidungen für die Nutzer getroffen werden – zunehmend ohne Rückfrage, weil: Convenience.

Insbesondere ökonomisch relevante Entscheidungen. „Bestell mir ein paar von diesen gelben Schuhen aus dem Film ‚Kill Bill'“ – die Entscheidung, wo genau die Schuhe bestellt werden, trifft die Plattform, ob anfangs als Vorschlag oder später eigenmächtig. Die als künstliche Intelligenz bezeichnete Offensive digitaler Assistenten ist also eine neue Form, um Konsumentscheidungen von Millionen Kunden monetarisieren zu können. Denn welcher Anbieter die beim Assistenten bestellten Waren oder Dienstleistungen liefern darf, das wird natürlich nach der Art der Plattformen in Echtzeit versteigert. Google funktioniert heute schon so.

„Conversational Commerce“, also der Produktkauf per Chat mit einem Assistenten oder Chat-Roboter, macht damit zugleich das machtvollste Vertriebsinstrument aller Zeiten – das Verkaufsgespräch – skalierbar. Der Vorteil eines Dialoges aus Anbietersicht liegt auch in seiner radikal eingedampften Angebotsstruktur: Wer ein Produkt in einer Suchmaschine sucht, bekommt eine Auflistung mit einer Vielzahl von Angeboten. Wer nach einem Produkt fragt, möchte einen, maximal zwei passende Vorschläge und keine minutenlange Aufzählung.

Das Leben wird aus- und durchleuchtet

Wie nebenbei erklärt das Wörtchen „passend“ dabei den immensen Datenhunger der digitalen Assistenten. Denn diese müssen so viel wie irgendwie möglich über die Nutzer wissen, um anhand dieser Daten den Kontext für passende Vorschläge berechnen zu können. Die Zeit der digitalen Assistenten wird daher auch eine Zeit der umfassenden Aus- und Durchleuchtung des Lebens seiner Nutzer.

Ein so eingängiges wie gruseliges Symbol dafür findet sich ebenso – selbst von Google-Mitarbeitern unbeklatscht – bei der Produktvorstellung: „Der Google Assistent kann auch dabei helfen, Informationen über die Inhalte auf meinem Smartphone-Screen zu bekommen.“ Die ständige Beobachtbarkeit des eigenen Smartphone-Screens (bisher nur auf Knopfdruck), um das bestpassende Produkt im richtigen Moment anbieten zu können.

Gemessen an den überhöhten und aus PR-Gründen oft fehlgeleiteten Erwartungen an den diffusen, vielschichtigen Begriff „künstliche Intelligenz“ mögen viele Dialoganwendungen noch grauenvoll schlicht oder dämlich wirken. Tatsächlich aber erleben wir die ersten Anfänge der nächsten Digitalepoche: Sprechen mit dem Netz.

Tl;dr

Die digitalen Assistenten kommen mit, na ja, künstlicher Intelligenz, großem Datenhunger und verändern vieles. Wieder einmal.

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