
Was ist das für 1 komische Geste beim Telefonieren?
Auf der Straße ist etwas anders geworden: Menschen halten sich ihr Smartphone nicht mehr ans Ohr, sondern vor die Nase. Warum machen die das?
Wenn Apple an diesem Mittwochabend das iPhone 7 vorstellt, wird man rund um die Welt von einem Gerät sprechen, von Funktionen und von Marktdaten. Wasserdicht? Keine Kopfhörerbuchse mehr?! Über eine Milliarde iPhones wurden verkauft!
Auf dem Interpretationenmarkt werden Interpretationen angeboten: Apple auf dem Abstieg, Apple beim Aufstieg, Apple braucht neue Kracher. Aber das ist nur börsenkursverseuchte Tech-Folklore, das sind ritualisierte Vermutungen von denjenigen, die glauben, dass Technologie die Welt verändert.
Die Wahrheit ist, dass Technologien die Welt kaum verändern, es ist vielmehr der Umgang der Menschen mit Technologie. Der Unterschied erscheint klein, aber er ist essenziell. Die Öffentlichkeit schaut viel zu sehr auf Geräte, um die Wirkmacht der Technologie zu verstehen, wo sie eigentlich auf die Menschen und ihre Verhaltensweisen schauen müsste.
Es gibt kein mobiles Internet mehr
2015 war zum Beispiel das Jahr, in dem der mobil vernetzte Medienkonsum größer wurde als der im stationären Internet (USA). Das bedeutet, dass es kein mobiles Internet mehr gibt – sondern das Internet und das stationäre Internet. Im September 2016 ist es exakt zehn Jahre her, dass in Apples Software iTunes der erste messbare Hinweis auf das iPhone zu erkennen war. Das Relevanteste, was seitdem rund um das Smartphone geschehen ist, lässt sich an einer Alltagsgeste erkennen.
Es ist eine Geste, die seit einiger Zeit auf den Straßen zu sehen ist, die sich über die Kinder in die Familien hineingefräst hat, die man als Person über 35 mit Erstaunen oder Irritation betrachtet: Das Smartphone wird beim Telefonieren nicht mehr ans Ohr gehalten, sondern wie ein koksbestreuter Taschenspiegel vor die Nase.
Wahlweise ist dabei der Lautsprecher eingeschaltet, es werden Kopfhörer getragen oder keins von beidem scheint der Fall zu sein. Merkwürdig. Warum tun diese ohnehin an Merkwürdigkeiten nicht eben armen, jungen Digitalleute das?
Als wäre es ein Bühnenmikrofon
Die Antwort verrät mehr über die alte, unvernetzte Welt und den digitalen Wandel als über die digital vernetzte Generation. Sie lautet: Das ist die nächstliegende und natürlichste Position eines Gerätes, in das man hineinspricht – siehe Bühnenmikrofon. Auch die Handposition entsteht aus der Praktikabilität, denn die Normalhaltung des Smartphone ist einhändig vor dem Bauch mit dem Bildschirm nach oben. Zusätzlich entsteht der Vorteil, jederzeit auf den Bildschirm schauen zu können.
Diese Telefoniergeste hebt das Smartphone von der Normalposition einfach einen halben Meter höher, mehr ist nicht nötig, fertig. Der Unterschied zu den Telefoniergesten vergangener Epochen (Hörer ans Ohr pressen) ergibt sich nämlich gar nicht aus dem merkwürdigen Verhalten der jüngsten Generation, sondern ist ein Ausweis der Gewohnheit der älteren Generationen, die wiederum aus einer längst vergangenen Technologie-Epoche übriggeblieben ist.
Telefonieren ist nur eine App unter vielen
Der Name Smartphone ist ein fernes Echo davon. Beim Wort iPhone ist nur das „i“ nicht gelogen, der Begriff „phone“ stimmt kaum mehr, sondern ist eine Marketingkrücke für die Älteren. Gut für die Zeit des Übergangs, in der „Taschennetzcomputer“ keine gleißend attraktive Produktgattung war. Nichts anderes ist das Smartphone heute trotz des nostalgischen Namens, denn Telefonieren gehört schon seit Jahren kaum mehr zu den wichtigsten Funktionen mobiler Technologie.
Genau da liegt die weltverändernde Kernaussage dieser völlig unmerkwürdigen, aber für nondigital Geprägte ungewohnten Telefoniergeste: Telefonieren ist nur eine App unter vielen, ein Kommunikationsangebot, ein Produkt auf derjenigen Taschenplattform, die jüngster und machtvollster Kristallisationspunkt des digitalen Kapitalismus ist.
Das Smartphone hat sich von seinen telefonorientierten Ahnen emanzipiert und ist endgültig zum Internet in der Tasche geworden, davon zeugt die Geste, keine Gnade für die merkwürdigen, medialen Mikrotraditionen des 20. Jahrhunderts.
Man kann sogar leiser sprechen
Die Smartphone-Generation hat den historischen Verhaltensballast des Ohrpressens abgeschüttelt und durch ergonomisch und körperökonomisch sinnvolle Verhaltensweisen ersetzt. Und wenn man nicht möchte, dass jemand mithört, dann setzt man entweder Kopfhörer auf oder stellt leise. Durch die geringere Distanz des eigenen Mundes zum Mikrofon kann man auf diese Weise selbst sogar viel leiser sprechen. Abgesehen davon ist es ja nicht so, als seien Telefonate in der Öffentlichkeit zuvor ein grandioses Mittel zur Manifestation der eigenen Privatsphäre gewesen.
Und dann, auf einmal, wird klar: Das klassische Telefonat war eine völlig künstliche Mediengattung, starr, penetrant und gestrig. Aus der Funktionenarmut und Technologienot geboren, entstanden durch die Limitationen altertümlicher Technik.
Das Telefonat ist das Meeting unter den Medienformen: Manchmal nicht zu ersetzen, aber eigentlich die Krone der Nervigkeit. Es erfordert die ständige, pausenlose Konzentration wie ein Live-Gespräch, aber ist um Gestik und Mimik beraubt.
Der digitale Wandel ist keine 1:1-Übersetzung analoger Techniken
Das elektronische Gespräch findet deshalb in der Smartphone-Generation anders statt, entweder mit Bild – oder asynchron. Sich gegenseitig kurze Stimmaufnahmen hin- und herzuschicken, das erscheint Telefonmenschen alter Prägung absonderlich, ist aber die direkte Folge der digitalen Funktionsaufspreizung, die das Smartphone über die Welt gestülpt hat.
Wer sagt, dass ein Telegespräch zwingend mit der Unerbittlichkeit der Liveübertragung geschehen muss? Man kann diese – bei WhatsApp unerhört erfolgreiche – Funktion auch als Befreiung vom Zwang zur Echtzeit betrachten, als Erweiterung der Möglichkeiten. Das verstörend synchrone Telefonat wird tief in die nervenschonende, freiraumschaffende Asynchronität verschoben.
Diese neue Telefoniergeste, die in den Straßen zu sehen ist und an den Abendbrottischen, sie ist damit ein gleißendes Symbol der digitalen Transformation und der Veränderung des Alltags mit dem Internet. Sie erinnert daran, dass der digitale Wandel keine 1:1-Übersetzung analoger Techniken ist, sondern Möglichkeiten eröffnet, die dann genutzt werden oder nicht.
Und wenn sie genutzt werden, ist kaum vorherzusagen wie. Die Existenz dieser Telefoniergeste steht dafür, dass sich zwar die Entwicklung der Technologie der nächsten zehn Jahre grob abschätzen lässt. Dass wir aber trotzdem wenig davon ahnen, wie sich deshalb die Gesellschaft verändern wird.
Diese merkwürdige Telefoniergeste ist ein Symbol für die digitale Transformation und ein Abgesang auf mediale Gewohnheiten von früher.