
Das Ende der Gesellschaft
Dieser Essay ist eine leicht gekürzte Version des Vortrages „Das Ende der Gesellschaft“, den ich im Rahmen der Tübinger Mediendozentur 2016 gehalten habe. Er erschien in dieser Form auch im Magazin „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Die Mediendozentur wurde vom Institut für Medienwissenschaft, dem Rektorat der Universität Tübingen und dem SWR-Studio Tübingen ins Leben gerufen und wird betreut von Prof. Dr. Bernhard Pörksen. Ein Video des Vortrags ist hier zu sehen.
Das Erste, was nach einem Titel wie diesem getan werden muss, ist, ihn zu dekonstruieren. Die Gesellschaft ist nämlich gar nicht zu Ende. Gewählt habe ich den Titel trotzdem, den Grund dafür möchte ich gern erklären.
Das Verständnis, das wir von „Gesellschaft“ haben, ist ein sehr diffuses. Wenn man nach Vorgängern im deutschsprachigen Raum sucht, landet man unweigerlich bei Ferdinand Tönnies, einem der Urväter der Soziologie, und seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887. Dort heißt es in Paragraph 25: „Gesellschaft also, durch Convention und Naturrecht einiges Aggregat, wird begriffen als eine Menge von natürlichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete in zahlreichen Beziehungen zueinander und in zahlreichen Verbindungen miteinander stehen, und doch voneinander unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen bleiben.“
Bezogen auf eine digitale Gesellschaft mutet diese 129 Jahre alte Definition überraschend aktuell an. Man sieht förmlich zwischen den Zeilen – „zahlreiche Beziehungen“, „zahlreiche Verbindungen“, „und doch voneinander unabhängig“ – das Wort Netzwerk herausquellen – soziales Netzwerk. Auch die anders gemeinte, aber doch treffende Bezeichnung von „künstlichen Individuen“ bekommt heute einen beinahe algorithmischen Glanz. Trotzdem stellt uns diese Urdefinition vor drei Probleme.
Zum Ersten ist in der digitalen Sphäre unklar, was genau „natürliche Individuen“ sind. Kann es in einer nicht greifbaren Welt, die zutiefst arbiträr, also nach weitgehend willkürlichen Verfahren aus Nullen und Einsen zusammenprotokolliert wurde, überhaupt Natürlichkeit geben?
Zum Zweiten, etwas unangenehmer noch, hat die Tönnies-Formulierung „Willen und Gebiete“ zwar den Klang des Titels eines Houellebecq-Romans. Aber die Virtualität der digitalen Sphäre, ihre fehlende Dinglichkeit und meist ebenso fehlende Örtlichkeit, lässt „Gebiete“ für eine Definition dysfunktional erscheinen. Gehört beispielsweise – um diesen Gedanken zu konkretisieren – ein deutscher Blogger in Indonesien zur deutschen „Gesellschaft“? Und ein deutschsprachiger? Und ein englischsprachiger, der über Deutschland bloggt? Oder der hauptsächlich von Deutschen gelesen wird?
Das dritte Problem mit Ferdinand Tönnies‘ Definition liegt im Begriff „Willen“, denn der ist ohne weitere, wesentlich tiefere Erklärung kaum zu greifen. Aber trotzdem bringt der „Willen“ uns auf eine vielversprechende Spur, nämlich durch die Verbindung mit dem Begriff „Convention“ (dessen verpflichtende Schreibung mit C ich übrigens zeitnah bei der „Duden“-Redaktion beantragen werde). Aus diesen beiden hochabstrakten Begriffswelten – Willen und Convention – lassen sich von Max Weber über Niklas Luhmann bis Pierre Bourdieu die meisten gängigen Gesellschaftstheorien irgendwie zusammenhäkeln. Deren Gesellschaftsdefinitionen aber auch nur grob zu skizzieren, würde – vollkommen zu Recht – ungefähr neun Stunden dauern. Daher möchte ich mich begnügen mit einer Feststellung von Pierre Bourdieu, der sagte: „Gesellschaft? Es ist kompliziert.“ So richtig wörtlich hat er es nicht gesagt, aber gemeint hat er es ganz sicher. Abgesehen davon möchte ich auch deshalb bei Bourdieu wildern, weil der Fokus seines Schaffens gerichtet war auf die Machtstrukturen, die die Gesellschaft ausmachen – und die durch Kommunikation tradiert, transportiert und trainiert werden.
Die Gesellschaft als Illusion
Warum aber jetzt der Titel „Das Ende der Gesellschaft“? Weil ich glaube, dass in diesen Tagen eine neue Phase beginnt und damit zwangsläufig auch etwas zu Ende geht. Allerdings nicht die Gesellschaft, wie ich im Titel etwas clickbaiterisch behauptet habe. Wenn ich es selbst so genau nähme, wie ich es von anderen oft mit Nachdruck verlange, müsste der Titel dieses Vortrags lauten: Das Ende der Illusion, die wir Gesellschaft nannten.
Ich möchte damit, schon um mich von der schlimmen und grauenhaften Margaret Thatcher abzuheben, nicht sagen, dass es keine Gesellschaft gibt. Ich möchte damit nur sagen, dass das Gesellschaftsverständnis, das die meisten von uns – zunächst abseits philosophischer Theorien – persönlich mit sich herumtragen, eine Illusion war. Genährt wurde diese Illusion durch das eigene soziale Umfeld und durch die Massenmedien des 20. Jahrhunderts, die uns ein Spektrum von Normalität und Gesellschaft vermittelt haben, das gleich doppelt irreführend wirkte.
Wir dachten, dass wir doch ungefähr wissen oder erahnen, was dort draußen geschieht. Wir gingen, ob bewusst oder nicht, von der Existenz einer Art Durchschnittsbürger als Referenzperson aus. Und wir nahmen deshalb auch an, dass trotz aller Schwierigkeiten gewisse Grundregeln und Grundwerte irgendwie vorhanden seien – Willen und Convention eben. Beides scheint mir nicht oder nicht im erhofften Ausmaß der Fall zu sein.
Das Ende dieser Illusion erfolgt – je nach Perspektive leider oder zum Glück – nicht mit einer lauten Detonation. Die Explosion ist dabei schon als Metaphorik nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, weil ein antidemokratischer Teil der Gesellschaft, der in den sozialen Medien außerordentlich lautstark agiert, solche Explosionen geradezu herbeisehnt. Aber es explodiert nichts. Es blättert ab. Und da ich mich ohnehin bereits tief im Metaphernsalat der Gesellschaftsbetrachtung befinde, gehe ich diesen Weg – Flucht nach vorn – tolldreist weiter. Die angedeuteten Conventionen der Gesellschaft – ich möchte sie hier in Anklang an Norbert Elias „Zivilisiertheit“ nennen –, dieses relevante Set an Conventionen hat sich nicht als schützende, stabile, wirksame Hülle erwiesen. Sondern als dünner Firnis. Von unserem illusorischen Gesellschaftsbild blättert der jahrzehntelang draufgehoffte Firnis der Zivilisiertheit ab. Darunter kommt etwas zum Vorschein, das zugleich Horror ist und wunderbar. Derzeit stört mich das Mischungsverhältnis allerdings etwas, um das gleich vorwegzunehmen. Dieser Prozess des Abblätterns lässt sich beobachten und wird offenbar zugleich begünstigt durch soziale Medien.
Die Verfertigung der Gedanken beim Reden
Wenn man intensiver nachforscht, ist es gar nicht so einfach herauszufinden, was genau die digitale Vernetzung, das Internet an strukturell wirklich Neuem hervorgebracht hat. Die Schweizer Viamala beispielsweise war mit dem Viamala-Brief von 1473 vermutlich eines der ersten Crowdfunding-Projekte überhaupt, finanziert von ein paar Dorfgemeinschaften, Kaufleuten und bäuerlichen Genossenschaften, die sich den unverschämten Vorstellungen des Bischofs von Chur über die Reisebedingungen auf der von ihm kontrollierten Alternativroute über den Septimer-Pass nicht mehr beugen wollten. Crowdfunding ist eine große, wunderbare Sache, aber uralt. Und Soziale Netzwerke folgen in ihren Grundzügen einer Theorie, die Mark Granovetter im Mai 1973 aufstellte, in seinem so oft zitierten wie selten gelesenen Papier „The Strength of Weak Ties“. Die sozialwissenschaftliche Theorie der Kraft schwacher Verbindungen beschreibt, weshalb zum Beispiel bei der Job- oder Partnersuche die fünf guten Freunde eher egal sind, aber die 765 Friends absolut entscheidend. Die Wirkmacht von Netzwerken – auch nicht neu.
Tatsächlich neu ist dagegen die Kombination aus Niedrigschwelligkeit und Dokumentierbarkeit, die Kommunikation im Großraum Social Media mit sich bringt. Die sozialen Medien haben Alltagskommunikation in die digitale Sphäre verschoben und so gespeichert. Und weil sie zugleich die Schwelle der Publikationsrelevanz gesenkt haben – wird alles veröffentlicht. Milliarden Mittagessenfotos sind jetzt Teil einer Öffentlichkeit, Milliarden Likes für falsch übersetzte Benjamin-Franklin-Zitate und Billionen zwar schriftliche, aber trotzdem spontan herausgesprudelte Kommentare. Die veröffentlichte Niederschrift selbst ist kein Kriterium der Durchdachtheit mehr.
Ich finde das supergroßartig, was für ein Schatz, was für ein Riesensteinbruch, was für ein brandneues Universum! Soziale Medien versetzen uns durch ihre Mischung aus Spontaneität und Dokumentation in die Lage, den Menschen in die Köpfe zu schauen. Heinrich von Kleist schrieb 1805 seinen Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Und jetzt können wir den Menschen bei der allmählichen Verfertigung ihrer Gedanken und Gefühle beim Kommentieren des Weltgeschehens zuschauen. Genau denjenigen können wir damit zuschauen, von denen wir dachten und hofften, sie seien mit uns „die Gesellschaft“. Es ist grandios, es ist grässlich, es ist grauenhaft, es ist großartig.
Was wir dort beobachten können: Wie sich live unsere Illusion von Gesellschaft auflöst. Da schreibt ein Mann aus Österreich anlässlich des Lieferwagens, in dem 71 Flüchtlinge erstickt sind: „Schade, dass es nur 71 waren!“ Da schreibt jemand aus Deutschland, er plädiere dafür, die Flüchtlingskrise zu lösen, indem man die Bundeswehr Flüchtlingsboote versenken lässt. Diejenigen, die schon hier sind, solle man in die Moscheen treiben und diese dann anzünden. Mit diesem Ansatz habe man doch schon einmal Erfolg gehabt. Und kürzlich fiel in einem Zoo in Cincinnati in den Vereinigten Staaten ein vierjähriger, schwarzer Junge in das Gorillagehege. Ein fast zweihundert Kilo schwerer Gorilla schnappte sich das Kind und wurde deshalb von Sicherheitskräften erschossen. In den sozialen Medien tobte ein Empörungssturm von Hunderttausenden, und eine katastrophal häufige Wortmeldung lautete: „Warum musste man den armen Gorilla erschießen für dieses dumme Kind?“
Normalzustand Erregung und das Ende der bürgerlichen Öffentlichkeit
Eine neue Qualität schält sich mit den sozialen Medien heraus, es gab sie natürlich schon zuvor, aber nun quillt sie jeden Tag ans Licht. Frank Schirrmacher fasste das im Frühling 2012 in einem Tweet zusammen: „Nicht die Anonymität, sondern der ansteigende Grad der NICHT-anonymen Hass-Kommentare und -Mails, von Sarrazin bis Grass, ist beunruhigend.“ Schirrmacher bezieht sich dabei auf eine so lang wie fruchtlos geführte Diskussion über die digitale Sphäre. Diese handelte davon, ob Anonymität der Schlüssel sei zu dem schon seit über 20 Jahren beklagten „rauen Umgangston im Netz“. Dabei sind vermeintlich erklärende Halbsätze wie „im Schutze der Anonymität“ wieder und wieder gefallen. Sie scheinen tendenziell falsch: Die messbare Realität widerlegt sie inzwischen mindestens teilweise, denn die oben zitierten Kommentare werden wie Millionen anderer Unfassbarkeiten verstörend oft unter Klarnamen verbreitet.[1]
Wir müssen erkennen, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, die wir im ausgehenden 20. Jahrhundert als Spiegel oder gar als Kristallisationspunkt der Gesellschaft betrachten wollten, ein temporärer, allzu kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit war. Diese bürgerliche Öffentlichkeit hat uns zu der rückwirkend betrachtet lieblichen Illusion von Gesellschaft verführt, die soeben schwindet. Sie war geprägt von einem der wichtigsten, wenn nicht dem wichtigsten bürgerlichen Wert: Mäßigung.
Mäßigung erkennt man vor allem daran, was als extrem gilt. Das von Extremisten verwendete Schlagwort „Lügenpresse“ zielt in erster Linie auf ebendiesen Kern bürgerlicher Öffentlichkeit. Wer „Lügenpresse“ sagt, meint eigentlich: „Die Medien sind nicht bereit, meine extremistische, kompromisslose, ungemäßigte Welthaltung abzubilden.“ Weil Extremismus und der autoritäre Ausschluss des Anderen Hand in Hand gehen, zielt der Begriff „Lügenpresse“ auch auf den Pluralismus. Wer „Lügenpresse“ schreit, möchte nicht nur seine Interpretation der Realität auch abgebildet sehen – sondern ausschließlich seine. Dabei hilft die Unterteilung der gesamten Welt in richtig (wir) und falsch (alle anderen), weil man dann von „richtig“ sprechen kann, wenn man eigentlich nur sich selbst meint.
Das wiederum passt zu einem häufig besprochenen Phänomen der sozialmedialen Welt: der Filter Bubble. Der Name stammt von Eli Pariser,[2] das zugrunde liegende, digitale Konzept ist jedoch älter: Die sogenannten echo chambers, Echokammern des Internets, wurden seit den späten 1990er Jahren besprochen. Metaphern sind in vielen Fällen so dysfunktional wie ein Auto aus Hartkäse, aber in der direkten Konkurrenz ziehe ich „Echokammern“ vor. Denn „Filter Bubble“ hat durch das Filtern selbst auch einen positiven Klang: Filtern ist in der digitalen Welt etwas Notwendiges, oft aktiv Ausgeübtes. Echos erscheinen passiver, sie geschehen durch die äußeren Umstände.
Nun existiert eine neue, digital, sozial vernetzte Öffentlichkeit, die anders funktioniert als die massenmedial geprägte Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts. Um den Zusammenhang zwischen massenmedialer Öffentlichkeit und Gesellschaft erahnen zu können, reicht es, das ausgelutschteste Luhmann-Zitat zum Thema zu verstehen: „Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.“ Da tropft das massenmedial vermittelte Bild der Welt und der Gesellschaft aus diesem Satz, ein Bild der Mäßigung. Wenn man dem bürgerlichen Wert Mäßigung in der Medienwelt des 20. Jahrhunderts nachspürt, fällt er einem überall auf: Es beginnt mit der formalisierten Sprache der Nachrichten, die in ihrer so leicht karikierbaren Starre und ihrer funktionalen Euphemisierung den Inbegriff der Mäßigung darstellt.
Es ist kein Zufall, dass eines der wichtigsten und meistverbreiteten medialen Genres des 21. Jahrhunderts die sogenannten Fake News sind, wie sie etwa Jon Stewart oder John Oliver perfektioniert haben. Eine Umfrage von 2014 deutet darauf hin, dass junge Amerikaner ihre Informationen eher aus Nachrichtensatiren beziehen als aus klassischen Nachrichtenangeboten. Das hängt nicht nur mit der Qualität und dem schwindenden Ethos der Nachrichtenmedien zusammen, sondern auch mit dem Abschied von der medialen Mäßigung, der mit dem Erfolg der sozialen Medien einhergeht. „Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus einem kleinen Bildschirm, der uns sozial, redaktionell und algorithmisch aufbereitete Informationen präsentiert, dabei Sensationalisiertes, Zugespitztes, Radikales tendenziell bevorzugt, was durch die Echokammern der Netzöffentlichkeit selbstverstärkend wirkt.“ So müsste es wohl heute heißen.
Zurück zur Gesellschaft oder vielmehr zurück zu derjenigen Öffentlichkeit, die uns das neue, entillusionierte und desillusionierende Bild der Gesellschaft vermitteln kann. Diese sozialmediale Öffentlichkeit ist noch ziemlich neu. Facebook hat sich in Deutschland erst 2010 und 2011 flächendeckend durchgesetzt. Und wir müssen erkennen, dass diesen sozialmedialen Teil der Öffentlichkeit etwas anderes antreibt als die massenmediale Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts – nämlich Emotionen.
Facebook ist gefühlsgetrieben, alles voller Gefühle. Beim direkten Vergleich zwischen einer gedruckten Zeitung und dem, was auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken stattfindet, wirkt die Medienlandschaft des 20. Jahrhunderts als gefühlsblinder, kalter, durchregulierter Monolith. Gefühle fanden in den Massenmedien – mit wenigen Ausnahmen – nur in ausgedachten Geschichten statt: in Filmen, Romanen, Liedern. Die verschiedenen Ausbrüche von Klaus Kinski, auf YouTube nachzusehen, haben vor allem deshalb Eingang in die Geschichte der Massenmedien gefunden, weil diese hochproblematische Figur sich nicht an die mediale Convention der Gefühlsreduktion, der Mäßigung, hielt.
Und jetzt wird diese künstliche Medienwelt umarmt und zugleich sanft gewürgt von einem sozialmedialen Moloch, dessen Normalzustand Erregung ist – positiv wie negativ, Begeisterung wie Empörung, Mitleid wie Abscheu, Trauer wie Wut, Liebe wie Hass. Soziale Medien sind riesige, enorm wirksame Gefühlsschleuderwerke. Auch ihr Hauptzweck ist Emotion, Information kommt erst lange danach, es heißt nicht umsonst „Like“ statt „Know“.
Information ist nur ein Beiprodukt sozialer Gefühlsmedien, bei denen nicht zentral ist, ob sie journalistischen Kriterien folgen oder nicht oder nur so halb oder nur so tun als ob. Die öffentliche Sphäre des Gefühls, die die sozialen Medien abbilden, funktioniert damit fundamental anders als die massenmediale Sphäre. Die sozialen Medien erlauben uns auf diese Weise, ein Bild der Gesellschaft zu erkennen, das zwar auch noch konstruiert ist – aber näher an der Wirklichkeit zu sein scheint als das massenmedial vermittelte.
Wachsende Monstrositäten wider die Rationalität
Der eingangs erwähnte Ferdinand Tönnies hat das konstituierende und enge Beziehungsgeflecht zwischen Gemeinschaften und Gesellschaft beschrieben. Die Max-Webersche Definition der „Vergesellschaftung“ weist auf den hohen Anteil an Rationalität in der Betrachtung des Begriffs „Gesellschaft“ hin: „‚Vergesellschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann typisch insbesondere (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen.“ So zu finden in „Wirtschaft und Gesellschaft“ von 1922, wo die ökonomische Färbung des Begriffs „Gesellschaft“ hervorgehoben wird, die sozialen Medien, fast sämtlich Unternehmen, auch zu eigen ist. Die entscheidende Passage: „kann typisch insbesondere (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung […] beruhen“. Wir befinden uns in einem Zeitalter des Max-Weberschen „Aber nicht: nur“. Im Zeitalter der digital vermittelten, gefühlten Wirklichkeit weicht die „rationale Vereinbarung“ zurück. Das neu entstehende Bild zeichnet die Gesellschaft emotionaler, instinktiver, getriebener, als wir bisher wahrhaben wollten. Das ist das Wesen dieser Erschütterung, die wir verspüren, wenn jemand auf Facebook ankündigt, syrische Babys anzünden zu wollen, und dafür 1000 Likes bekommt.
Erschütternd ist nicht, dass es solche Menschen gibt, die so etwas tun, das war immer klar – und in Deutschland ist es dreifach klar. Das Wesen unserer Erschütterung besteht darin, dass jemand bereit ist, Gemeinschafts- und Gesellschaftsstiftung zu betreiben durch den Ausruf von Monstrositäten. Das ist die Entwicklung, die uns Tränen der Verzweiflung und auch der Verbitterung in die Augen treibt: dass gesellschaftlicher Fortschritt und Zivilisiertheit so sehr auseinanderdriften können, dass es so bitter viele Menschen dort draußen gibt, die für einen emotionalen Moment der gemeinschaftlichen Empörung alle Werte der Zivilisation über den Haufen werfen. Und dass es immer noch verstörend viele gibt, die daraus Handlungen ableiten, losgehen und ernsthaft versuchen, syrische und schwarze und jüdische Babys anzuzünden.
Das Prinzip Demokratie ist implizit aufgebaut auf der Annahme, dass – mit Max Weber gesprochen – sich die meisten Leute einigermaßen rational verhalten. Dass sie abwägen, überlegen, nachdenken, zu Schlüssen und zur politischen Willensbildung kommen aufgrund der Faktenlage und ihrer Interpretation. Und dann kommt ein soziales Medium, mit dem man in die Köpfe schauen kann, und lässt einen daran zweifeln und verzweifeln.
Der erste Wirkkomplex der sozialmedialen Öffentlichkeit: Wissensbildung und das Ende der Gewissheiten
Wir betreten jetzt den glitschigen, schwingenden Boden der soziologischen Vermutung. Bis hierhin konnte man mir mutige bis tolldreiste Interpretationen bestehender Ideen und Vereinfachung der messbaren Realität zu Verständniszwecken vorwerfen. Aber ab hier möchte ich herumvermuten, denn die neue Sphäre der digitalen, sozialen Vernetzung erscheint mir in wesentlichen Aspekten noch untererforscht.[3]
Der Spiegel dieser neuen Interpretation von Gesellschaft, also die sozialmediale Öffentlichkeit, funktioniert nach weniger rationalen und sehr viel emotionaleren Prinzipien. Aber was heißt das im Detail, welche Mechanismen wirken in der und auf die digitalsoziale Öffentlichkeit? Dazu will ich drei Beobachtungen samt entsprechenden Erklärungsangeboten skizzieren, die einen Diskurs und damit ein tieferes Verständnis der sozialen Medien und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft provozieren sollen.
Weil der erste Komplex einer neuen sozialmedial geprägten Gesellschaft der Komplex der Wissensbildung ist, möchte ich zu Bourdieu einen anderen französischen Philosophen gesellen: Jean-François Lyotard. Dessen für mich entscheidende Erkenntnis liegt in seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ von 1979. Die Unterscheidung von szientifischem und narrativem Wissen ist für die sozialmedial vermittelte Welt essenziell. Gesellschaftliche Erzählungen machen einen Großteil unseres Weltverständnisses aus. Natürlich waren sie im 20. Jahrhundert, in dem ausnahmslos jede Person ein Pfund Aufklärung zum Frühstück aß, schlüssig und nachvollziehbar gewonnen aus dem schulisch, beruflich und ökonomisch vermittelten szientifischen Wissen.
Szientifisches Wissen hatte, auch das wissen wir von Lyotard, immer eine Art verborgene Legitimationskrise. Man musste irgendwie glauben, was die Wissenschaft erklärte, weil man es unmöglich selbst überprüfen konnte. Epistemologisch betrachtet übertrug man die Stabilität des eigenen Wissenssystems auf den Glauben an die wissenschaftliche Methode selbst und an ihre Einhaltung durch das System Wissenschaft. Restzweifel sage ich nicht zufällig, denn die Aufklärung hat die Skepsis in den Mittelpunkt der Weltwahrnehmung gestellt, und Skepsis ist nichts wert, wenn sie nicht auch an sich selbst zweifelt. Zumindest ein bisschen.
Reißschwenk ins sozialmedial vermittelte 21. Jahrhundert: Narratives Wissen und szientifisches Wissen haben sich weiter voneinander abgelöst. Insbesondere in den sozialen Medien. Das Gefühl, zugleich Treibstoff und Produkt der sozialen Medien, hat sich mit aller Macht über alles gestülpt. Auch deshalb ist – auch öffentlich, auch gesellschaftlich, auch außerhalb der Gemeinschaften – die „gefühlte Wahrheit“ groß geworden. In der Entstehung des Wissens der sozialmedialen Gesellschaft nähert sich das Publikum der Information zunächst mit dem emotionalen Filter: „Fühlt sich diese Information richtig an?“ Das ist keine ganz falsche und auch keine neue Frage. Aber Gefühle sind radikal subjektiv und aus dem Moment geboren. Sie brauchen den Ausgleich durch verlässlichere, um Objektivität bemühte Interpretationen der Wirklichkeit.
Früher haben Redaktionen einen Anflug dessen geleistet, indem sie mit all ihrer Formalisierung und Entemotionalisierung und Regulierung auf die Deutung der Welt losgelassen wurden. In einer massensozialen Medienwelt aber sucht sich jeder die Instanzen der vermeintlichen Objektivität selbst aus, und zwar meist nach emotionalen Kriterien. Es scheint kein flächig vorhandenes, gesellschaftsverbindliches Korrektiv mehr zu geben. Sogar der Duden musste sein ehernes Versprechen „maßgebend in Zweifelsfällen“ – quasi die Slogan gewordene Mutter aller normativen Objektivitätsversprechen – abgeben. Die „Tagesschau“, früher das Übersymbol für die nicht subjektive Ausdeutung des Weltgeschehens, ist für einen irritierend großen Teil der Gesellschaft zum Epizentrum der Lügenpresse geworden. Die Verschwörungstheorie ist dabei der wichtigste Irrläufer der Wissensbildung.
Das Erblühen der Verschwörungstheorien
Was die Entwicklung und Weitergabe von Wissen angeht, sehe ich drei hervorstechende Gründe für das Erblühen der Verschwörungstheorien in den Echokammern der sozialen Medien: erstens die zunehmende Komplexität der Welt. Dabei spielt es keine größere Rolle, ob die Welt tatsächlich komplexer wird – was ich glaube – oder nur das für uns wahrnehmbare Abbild der Welt immer komplexer wird – was auch möglich ist. Dieser durch Nichtverstehbarkeit niederschmetternden Komplexität möchte man als Teilnehmer der Gesellschaft aktiv etwas entgegensetzen. Das geht besonders einfach, indem man Muster sucht, Verbindungen zu erkennen versucht, Zusammenhänge herstellt. Ärgerlicherweise nämlich leidet der Mensch an einer milden bis schweren Form von Pareidolie, der Sucht, überall Muster zu erkennen – auch dort, wo keine sind oder ganz andere oder nur zufällige Häufungen. Dazu kommt die gewohnheitsmäßige, aber meist unerkannte Überhöhung des eigenen Nahbereichs, und schon ist aus einer zufälligen, selbst erlebten Begebenheit die Bestätigung dieses einen, endlich alles erklärenden Musters geworden. Ich spreche natürlich von der Weltverschwörung der Reptilienmenschen. Wie sollte es auch anders sein, wo ich neulich diese verräterische Eidechse habe quer über den Weg laufen sehen, mich mit starrem Blick fixierend, den Davidstern auf der geschuppten Reptilienhaut angedeutet, aber doch deutlich erkennbar für mich als Experten.
Der zweite Hauptgrund für die allgegenwärtigen Verschwörungstheorien bei der Wissensbildung in sozialen Medien liegt in der Gesellschaft selbst begründet – im kapitalistischen System, in der Politik des 20. Jahrhunderts. Er besteht aus der unleugbaren Tatsache, dass Verschwörungen existieren. Auch große, und auch solche, von denen viele Jahre jeder vernünftige Mensch geschworen hätte, sie seien das Produkt einer paranoid eskalierenden Phantasie. Als Beweis dafür reicht die Nennung eines einzigen Namens: Edward Snowden. Vor Snowden schien die Behauptung der Existenz von elektrizitätslos funktionierenden, nicht detektierbaren Miniwanzen, die Daten aufzeichnen und aus der Ferne per Radar ausgelesen werden können, einem schlechten Science-Fiction-Film entnommen. Heute wissen wir, dass es den „Ragemaster“ gibt, eine Datenwanze, die genau so funktioniert. Und es sind nicht nur die ach so bösen Amerikaner, die diese nutzen. Die nachweislich existierenden Verschwörungen dampfen in Deutschland mindestens genauso heftig, auch das ließ sich durch Snowdens Enthüllungen erkennen. In einem angrenzenden Bereich lässt sich mutmaßen, dass der gesamte NSU-Komplex, bei dem inzwischen der fünfte Zeuge – ich wiederhole: der fünfte Zeuge – lange vor seiner Zeit zufälligerweise gestorben ist, uns in diesem Kontext noch um die Ohren fliegen und dabei eine bittere Verschwörung offenbaren könnte. Der zweite, große Grund für das Erstarken der Verschwörungstheorie ist also, dass es viele tatsächlich nachweisbare Verschwörungen gibt. Samt der zugehörigen Manipulationen öffentlich verfügbarer Information durch Regierungen, Behörden, Interessengruppen. Die britische Spionagebehörde GCHQ hat eine eigene Abteilung namens JTRIG, deren erklärter Auftrag die Manipulation der öffentlichen Meinung ist. Das schließt explizit Rufmordkampagnen ebenso ein wie Manipulation von Online-Umfragen und gefälschte Internet-Kommentare. Man wäre schlecht beraten zu glauben, dass nicht auch andere Geheimdienste, etwa der russische, solche Manipulationsabteilungen unterhalten, die ebenso wie alle anderen in Deutschland ein wichtiges Aktionsfeld sehen.
Der dritte Grund für die Allgegenwart der Verschwörungsunterstellung in der sozialmedialen Informationssphäre ist mit der Aufspreizung von Lyotards narrativem Wissen zu erklären. Die ständige Konfrontation mit den vielen Unerklärbarkeiten der Welt provoziert, dass man sich selbst verzweifelt Erzählungen und Suberzählungen sucht, die Klarheit schaffen. Mit denen sich endlich ein umfassendes Verständnis dieser nervigen, komplizierten, Milliarden Grautöne beinhaltenden Welt erreichen lässt. Da greift man gern auf ein Erklärungsangebot zurück, das zwar in einer Art Medienmimikry formal die Präsentation des szientifischen Wissens nachahmt. Aber in keiner Weise den seit der Aufklärung herausgebildeten Regeln für ebendieses Wissen folgt. Dazu kommt, dass innerhalb erklärender Narrative eine Ideologie leicht für eine Verschwörung gehalten werden kann. Handeln die Mitglieder dieser oder jener Gruppe alle ähnlich, weil sie ähnliche Werte verinnerlicht haben und die gleiche Idee verfolgen? Oder weil sie sich heimlich absprechen, sich also verschworen haben? Ebenso lässt sich durch die Möglichkeit, dass jeder alles ins Netz schreiben kann, für alles und auch das Gegenteil von allem eine Bestätigung im Internet finden. Die schiere Informationsmasse dieser Borges-Bibliothek zu Babel, die das Netz auch ist, hat bewirkt, dass zusammen mit dem Wunsch, Muster zu erkennen, sich auch alles erkennen lässt. Ergänzt wird dieser Wunsch durch die Gefühlsbrille, die es vereinfacht, bestätigende Informationen selektiv wahrzunehmen und alles andere auszublenden.
Der Komplex der Wissensbildung und -vermittlung ist also trotz der früh erkannten enormen Chancen und Möglichkeiten gerade für die Bildung durch die sozialen Medien und ihre basalen Funktionen zunächst in einer Krise gelandet.
Der zweite Wirkkomplex der sozialmedialen Öffentlichkeit: Selbstvergewisserung und Identifikation
Der zweite Komplex, den ich nach der gesellschaftlichen Wissensbildung im Netz beleuchten möchte, bezieht sich auf die soziale Selbstvergewisserung und Identifikation durch und mit sozialen Medien. Es scheint schon im 20. Jahrhundert eine wesentliche, identifikative Funktion der Selbstvergewisserung durch Massenmedien gegeben zu haben. Die Kommunikation der großen Massenmedien über sich selbst weist darauf hin: „‚Spiegel‘-Leser wissen mehr“, „Für die Info-Elite“, „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ – all dies sind nichts anderes als Identifikationsangebote. Sie dienen der sozialen Selbstvergewisserung: „Ich lese ‚Spiegel’ oder FAZ, ich gehöre zu den Besserwissenden, verfüge über einen klugen Kopf und durch Zurschaustellung meines Medienkonsums kann das auch jeder sehen.“ Aber niemand kann sehen, was für kluge Artikel ich auf meinem Smartphone in der Bahn lese. Wie bitter. Da quäle ich mich durch kilometerlange, öde Textwüsten und niemand bekommt es mit. Das Digitale beraubt mich so meiner gewohnten Repräsentationsmöglichkeiten zur sozialen Selbstvergewisserung.
Zum Glück springen die sozialen Medien mit Anlauf in die entstandene Lücke: Nur ein Klick, nur ein Like, nur ein wissender Kommentar – und schon weiß mein soziales Umfeld, was ich lese und wie verständig ich bin. Auf diese Weise kann ich mich zu der digitalen Persona herausputzen, einer medial inszenierten Person, die ich gern sein möchte. Hierbei beziehe ich mich in erster Linie auf Erving Goffman und sein Standardwerk, „The Presentation of Self in Every-Day Life“, mit dem albernstmöglichen deutschen Titel: „Wir spielen alle Theater“. Das für mich relevante Zitat, von mir selbst etwas freier übersetzt:„So ist es für uns alle möglich, für kurze Zeit die schlimme Person zu werden, von der wir glauben, dass die anderen uns dafür halten können.“
In sozialer Interaktion die schlimmstvorstellbare Person werden, ohne es so recht zu merken – es wirkt, als hätte Goffman die Wirkung sozialer Medien schon 1956 erkannt. Darin liegt, glaube ich, der Mechanismus verborgen, der den Verstärkungseffekt der sozialen Medien ausmacht. Denn es ist ja nicht nur neu, dass man in die Köpfe der Menschen beim Verfertigen von Gedanken und Gefühlen hineinschauen kann, die soziale Vernetzung hat nicht nur eine neue Perspektive auf etwas Bestehendes eröffnet. Sie hat obendrein eine neue soziale Dynamik ermöglicht. Am einfachsten lässt sich diese digitalsoziale Dynamik anhand der zahlreichen rechtsextremen Communities im Netz entdecken und erklären.
»Wir müssen uns endlich wehren!«
Mit jeder neuen, in sozialen Medien mindestens halböffentlichen Aussage, die etwas monströser daherkommt, aber immer noch 100 Likes bekommt, verschiebt sich die Grenze des öffentlich Sagbaren in der Gesellschaft weiter in Richtung Monstrosität. Und alle Likenden bekommen es unmittelbar mit. Daraus ergibt sich der Verstärkungseffekt. Mit Goffman gesprochen, reicht dafür dieser eine Moment, in dem eine einzelne Person der schlimmstdenkbare Mensch ist – und sich entsprechend äußert.
Die Idee des „Overton-Window“ gilt auch für die sozialmediale Öffentlichkeit, dass also ein bestimmter Bereich der gerade noch gesellschaftlich akzeptierten, öffentlichen Kommunikation existiert. Dieses Overton-Window öffnet sich immer weiter: Man kann heute in der Öffentlichkeit Dinge sagen, für die man vor zwanzig Jahren gesellschaftlich geächtet worden wäre. Eventuell liegt das daran, dass die sozialmediale Öffentlichkeit einen so großen gesellschaftlichen Einfluss bekommen hat, dass sie auch in der massenmedialen Öffentlichkeit Prägekraft entwickelt hat.
Soziale Selbstvergewisserung – bin ich mit dieser Äußerung noch akzeptierter Teil einer Gemeinschaft und der Gesellschaft? – wirkt besonders stark, wenn sie schreien kann: „Dagegen!“ – Identifikation in der Gruppe über plakative Gegnerschaft also. „Wir gehören zusammen und müssen uns wehren, weil wir und unsere gemeinsamen Werte angegriffen werden!“ Das ist die hochemotionale Erzählung, die hinter den rechten und rechtsextremen Gruppierungen im Netz steht und so gut funktioniert.
Schon mit einem Like, mit einem Codewort, mit einem angedeuteten Scherz ist in Sachen Zugehörigkeit alles klar. „Kulturbereicherer“ oder „Fachkräfte“ sind Spottworte, mit dem Zuwanderer verhöhnt werden und zugleich auch die bürgerliche Öffentlichkeit, die mit klassischer Mäßigung als Ausgleich auch das Positive der Zuwanderung betonen wollte – die Bereicherung der Kultur etwa oder die qualifizierten Arbeitskräfte, die ins Land kommen. Ein einzelnes Wort reicht damit unter Rechten für die Identifikation, die gemeinsame Selbstvergewisserung aus.
Deshalb ist es auch so überraschend leicht, diese diffusen Gruppierungen zu infiltrieren, wie es eine Reihe von Journalisten und Bloggern Anfang 2016 taten. Einen rechtsextremen Artikel verlinken, ein paar Like-heischende Kommentare auf den entsprechenden Facebook-Seiten, ein plakatives, Zugehörigkeit signalisierendes Profilbild – schon ist man akzeptiert in Gruppen wie „Wir sagen NEIN zum Heim“ oder „Deutschland zuerst!“, zumindest solange man einen deutsch klingenden Namen trägt.
Es ist nicht überraschend, dass Leute mit einer großen Anfälligkeit für rassistische Narrative sich weitgehend an Äußerlichkeiten orientieren, was die Einschätzung anderer Personen angeht. Aus dieser gemeinschaftlichen, sozialen Selbstvergewisserung entsteht in den sozialen Medien eine lose, aber sehr große und gefühlt homogene Gruppe: das rechtsextreme Wir. Dieser Extremismus mag nicht in jedem Mitglied bewusst herangereift sein. Aber der Extremismus ist trotzdem ein konstituierendes Element der gesamten sozialen Gruppierung. Zwar wird der Extremismus-Begriff selbst in der Wissenschaft nicht immer trennscharf verwendet. Aber ich möchte ihn hier benutzen, weil sich in den sozialen Medien drei Bestandteile eines Rechtsextremismus deutlich abzeichnen: erstens eine immense, zur Schau gestellte Menschenfeindlichkeit; zweitens eine sehr absolute, ausschließende Radikalität, die jeden Kompromiss oder Diskurs verunmöglicht; und schließlich, im emotionalen Zentrum der meisten rechtsextremen Bewegungen – das Gefühl der Notwehr.
In den sozialen Medien und selbstverstärkt durch die sozialen Medien, in den Echokammern und den übergeordneten, politischen Deutungen der Welt – überall dort wabert das Gefühl herum: „Wir müssen uns endlich wehren! Denn wir werden angegriffen! Wir werden ausgelöscht! Wir, also das deutsche Volk – sollen ersetzt werden! Von amerikanisch-zionistischen gekauften BRD-GmbH-Echsenmenschen! Merkel muss weg!“
Was sich hier albern anhört, ist bitterer und extremistischer Ernst der entsprechenden politischen Gruppierungen. Der stellvertretende AfD-Sprecher Alexander Gauland, ein klassisch gebildeter, intelligenter Mann, hat die Theorie der geplanten Ersetzung von denjenigen, die er für „die Deutschen“ hält – die sogenannte „Umvolkung“ – mehrfach in der Öffentlichkeit angedeutet. Der Hintergrund ist verständlich, wenn man die Mechanik der sozialen Selbstvergewisserung betrachtet. Denn es ist ja gerade eben nicht so, dass alle diese Rechtsextremisten von Anbeginn Monster sind. Es sind ganz unterschiedliche Leute, die nicht gelernt haben, mit den Schwierigkeiten der modernen Welt umzugehen. Sie benötigen deshalb einfache Narrative, mit denen sie sich selbst vergewissern, nicht die Schuld an ihren eigenen Schwierigkeiten zu tragen. Und gerade deshalb brauchen sie Schuldige.
Es sind also Leute, die durchaus noch in moralischen Maßstäben denken und fühlen wollen, zumindest teilweise und anfänglich. Daher wird eine Atmosphäre der Notwehr beschworen – denn Notwehr ist die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form der physischen Gewalt. Das ist des Pudels Keim, und das ist der Grund, warum diese rechten Bewegungen nicht als „rechtspopulistisch“ bezeichnet werden sollten – sondern als rechtsextrem. Sie zielen mit ihren Narrativen, mit ihrer Erzählung der Wirklichkeit auf Gewaltszenarien, getarnt als Notwehr und Selbstverteidigung.
Das ist die beginnende Legitimierung von Gewalt gegen Menschen – geboren aus der sozialen Selbstvergewisserung, verstärkt durch die Mechanismen der Repräsentation des rechtsextremen Wir in sozialen Medien und inklusive der lange bekannten Mechanismen wie der Entmenschlichung derjenigen, gegen die man Gewalt anwenden wird, nämlich die Flüchtlinge, die man zum bedrohlichen Flüchtlingstsunami herabwürdigt. Das ist die verbale Vorbereitung von systematischer Gewalt. Ein bekanntes Diktum von Bourdieu aus „Die verborgenen Mechanismen der Macht“ lautet: „Tatsächlich üben Worte eine typisch magische Macht aus: sie machen sehen, sie machen glauben, sie machen handeln.“ Und eben hier greift die soziale Dynamik der Selbstvergewisserung hinein in die des gemeinschaftlichen Handelns: Wenn der Vorschlag, Flüchtlinge anzuzünden, so viele Likes bekommt, wird die Handlung selbst eher als gewünscht und richtig empfunden. So werden aus extremistischen Worten extremistische Taten, mit Hilfe der sozialen Medien. Das also ist der Transmissionsriemen zum dritten Komplex der Wirkung sozialer Medien auf die Gesellschaft: der Übertrag auf die Politik.
Der dritte Wirkkomplex der sozialmedialen Öffentlichkeit: Politische Wirkung
Der dritte und letzte Komplex beschreibt die neuen medial-politischen Aspekte der Gesellschaft durch soziale Medien, genauer die Verbindung von Medien und Demokratie. Es beginnt mit Jürgen Habermas und seiner Habilitation von 1962: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Sein daran anknüpfendes, späteres Konzept der deliberativen Demokratie, das für das 20. Jahrhundert gut zu gebrauchen war, scheint im sozialmedialen 21. Jahrhundert zur Erklärung der Wechselwirkung zwischen Öffentlichkeit und Politik allein weniger gut geeignet. Denn in der deliberativen Demokratie, also in einer Demokratie, die zentral auf öffentlichen Diskursen beruht, scheint nicht vorgesehen, mit welchem irrationalen, gefühlsgetriebenen Aberwitz heute Diskurse im Netz stattfinden. Die beschriebene (erneute) Krise des rationalen, öffentlichen Diskurses ist auch eine Krise der deliberativen Demokratie.
Und mit welcher Wirkung: Fast ein Viertel der Stimmen bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt für Leute, die behaupten, dass wir unmittelbar vor der endgültigen Islamisierung des Landes stehen. Dass Merkel bald nach Chile flüchten muss. Dass ein Mensch mit Namen Boateng nicht einmal dann wirklich deutsch sein kann, wenn er in Berlin geboren und aufgewachsen ist und für die deutsche Nationalmannschaft spielt. Wir befinden uns offenbar mitten in einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit, reloaded by Social Media. Um das zu erklären, möchte ich etwas ausholen und in den Bereich eintauchen, der früher „Gegenöffentlichkeit“ genannt wurde. Ursprünglich als linksrevolutionäres Konzept verstanden, das davon ausging – es sei an Bourdieus Fixierung auf Machtstrukturen erinnert –, dass Medien eine tendenziell herrschaftsstützende Funktion in der Gesellschaft haben, Investigation hin, kritische Berichterstattung her. Medien können eventuell für die Einhaltung der Regeln im bestehenden System sorgen und die Mächtigen durch Herstellung einer Öffentlichkeit sanktionieren. Aber öffentlicher Druck kann nur so groß sein, wie es die Machtstrukturen zulassen.
Kohls Bewältigungsmethode des Aussitzens hat davon einen kleinen Eindruck verschafft. Gegenwärtig zeigt der autoritäre, paranoide, narzisstische Präsident Erdogan in der Türkei, wie sich eine vormalige Demokratie des Mittels des öffentlichen Drucks durch die Medien beraubt und berauben lässt. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass Erdogan ein echter, geradezu klinischer Verschwörungstheoretiker ist, dessen Karriere als Internetkommentator nur daran scheiterte, dass er gleich die ganze Türkei als sein eigenes Kohlenstoff-Internet missbraucht.
Die rechtsextreme Gegenöffentlichkeit
Die Gegenöffentlichkeit ist jetzt in Deutschland flächendeckend angekommen. Aber verdammt – sie ist nicht linksaufklärerisch und liberal und weltoffen, sondern rechtsextrem. Niemand versteht derzeit besser als die Rechtsextremen, die emotional verbindenden und aktivierenden Elemente der sozialen Medien für sich zu nutzen. Der Erfolg der AfD ist im Netz geboren. Die AfD ist ohne Zweifel die erste erfolgreiche Internet-Partei Deutschlands. Sie nutzt die Gegenöffentlichkeit konsequent und gewissermaßen im Verbund mit Online-Offline-Phänomenen wie Pegida. Was für eine Schmach für die liberale Linke, dass ihr altes Konzept der Gegenöffentlichkeit im Zeitalter der digitalen Vernetzung so erfolgreich von reaktionären Kräften umgesetzt wird. Von Leuten, die – ich zitiere Gauland – „das Land in dem Zustand erhalten wollen, indem sie es von ihren Vätern und Vorvätern bekommen haben“.
Wer nicht glaubt, dass die AfD ihren Erfolg sozialen Medien verdankt, dem möchte ich das – zum Glück nur als Gedankenexperiment vorhandene – Facebook-Parlament vorstellen. Das wäre das Parlament in Deutschland, wenn Facebook-Likes gleichbedeutend wären mit Wählerstimmen (Stand 7. Juni 2016): AfD 274 044 Stimmen, NPD 163 847 Stimmen, Die Linke 140 157 Stimmen, CDU 106 870 Stimmen, SPD 105 703 Stimmen, Grüne 103 509 Stimmen, FDP 47 283 Stimmen. (Die Quatschpartei DIE PARTEI ignoriere ich so offensiv wie konsequent.) Das ergibt im Facebook-Parlament von Deutschland für AfD und NPD zusammen 46,5 Prozent – wenn die FDP an der Fünfprozenthürde scheitert, ist das die absolute Mehrheit. Und hier fügt sich politisch, sozialmedial und emotional alles zusammen – repräsentiert durch eine Person, die ich für einen der derzeit gefährlichsten Männer in Deutschland halte: Marc Jongen. Jongen ist Philosoph und ehemaliger Schüler von Peter Sloterdijk, er ist in Baden-Württemberg ansässig. Er ist der AfD-Philosoph. Er ist so gefährlich, weil er hochintellektuelle, klug durchargumentierte Rechtfertigungen gewaltbereiter Wut schnitzt. Er flicht die Narrative, die rechtsextreme Gewalt legitimieren können.
Jongen benutzt dafür den Begriff „Thymos“, als dritten Teil der altgriechischen Lehre Platons, die er neu interpretiert für seine Zwecke. Dabei sieht er drei „Seelenfakultäten“ jeder Persönlichkeit: den Logos (den Intellekt), den Eros (die Lust) und die Gefühlslage Thymos. Die Deutschen haben, davon ist Jongen fest überzeugt, ihren Thymos zu lange unterentwickelt gelassen. Daraus folgt die Hoffnung, dass jetzt endlich wieder die Zeit des Volkszorns anbräche. Wut, Zerstörung, körperliche Attacken – akzeptabel, wenn nur der deutsche Thymos endlich wieder brodelt. Jongen sagt dann Sätze wie diese: „Weil es Deutschland an Zorn und Wut fehlt, mangelt es unserer Kultur auch an Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Kulturen und Ideologien.“ Und: Einzig die AfD lege „Wert darauf, die Thymos-Spannung in unserer Gesellschaft wieder zu heben“.
Dies ist das intellektuelle Fundament der antidemokratischen, reaktionären, wutentbrannten Bewegung des Rechtsextremismus, gewachsen in der Gesellschaft mit den sozialen Medien. Jongen ist die Personifizierung der Tatsache, dass Bildung ohne Herzensbildung nichts wert ist, sondern im Gegenteil den direkten Weg in die Entzivilisierung der Gesellschaft darstellt. Der dritte, politische Wirkkomplex der sozialen Medien verdeutlicht, dass Politiken der Empörung in den gegenwärtigen sozialen Medien besser funktionieren und spürbar zurückwirken auf die politische Welt außerhalb des Internets. Das ist eine so traurige wie alarmierende Erkenntnis, und sie scheint weltweit zu gelten.
Der Furor des Extremismus und die Institutionalisierung des Mobs
Das Ende der Gesellschaft, das Ende unserer Illusion von Gesellschaft zeigt uns damit auf: Es scheint wieder möglich, was lange kaum möglich schien – eine politische Bewegung in Deutschland von maßgeblicher Größe, Kraft und Wirkung, die den Furor des Extremismus mit der Institutionalisierung des Mobs verbindet. Wir müssen als Demokraten höllisch aufpassen, dass uns nicht die Instrumente der Aufklärung entrissen werden, umgedeutet werden und mit aller Radikalität menschenfeindliche Ideologien vorangetrieben werden. Die tiefer und tiefer in das System einsickern können.
Gestern war es die NSU, deren merkwürdige Verbindungen zum Verfassungsschutz uns sehr stark beunruhigen sollten. Heute ist es die Selbstverständlichkeit, mit der Menschenverachtung in riesigen, öffentlichen Räumen mitten in der Gesellschaft geäußert wird. Morgen werden es AfDler sein, die ihren Anteil an der demokratischen Ausgestaltung der Republik einfordern. Der Marsch durch die Institutionen kann auch von rechts geschehen.
Erobert die sozialmediale Gesellschaft zurück!
Aber so deprimierend kann ich nicht schließen. Deshalb möchte ich den Beginn einer Wendung ins Positive versuchen, und zwar anhand einer Persönlichkeit, die im Frühsommer 2016 gestorben ist – passenderweise einer schwarzen, muslimischen, bürgerrechtsaktiven Persönlichkeit. Die Rede ist natürlich von Muhammad Ali. Eine oft erzählte Anekdote hilft vielleicht dabei, die deprimierende, schlecht scheinende Realität zu drehen und Energie für das Gute oder zumindest für das weniger Schlechte daraus zu machen.
An einem regnerischen Tag des Jahres 1954 fuhr der zwölfjährige Muhammad Ali in Louisville zu einer Home Show, weil es dort kostenlose Hotdogs geben sollte. Er fuhr dorthin mit seinem ganzen Stolz, nämlich einem rotweißen Fahrrad der Marke Schwinn, das sagenhafte 60 Dollar gekostet hatte. Nachdem er mit einem Freund die Home Show besichtigt hatte, wollte er zurück nach Hause – aber Schreck – das Fahrrad war gestohlen. Zorn, Enttäuschung, Deprimiertheit. Ali fragte einen Passanten, wo der nächste Polizist zu finden sei. Der sagte ihm, dort drüben sei Joe Martin, in dieser komischen Sporthalle. Joe Elsby Martin war tatsächlich Polizist, aber er war auch Boxtrainer und führte eine Boxhalle in Louisville. Als Ali ihm schilderte, dass er den bösartigen Fahrraddieb anzeigen und vermöbeln wolle, erwiderte Martin, vermöbeln könne man lernen – und zwar von ihm und hier, in der Boxhalle. Joe Martin wurde der erste Boxtrainer von Muhammad Ali, dessen Schaffen ich für die Weltgeschichte für wichtiger halte als für seinen Sport.
Mit dieser wie ein kleines Taschenlagerfeuer wärmenden Anekdote möchte ich sagen: Aus dem eindeutig Schlechten kann ganz unmittelbar etwas eindeutig Gutes erwachsen. Man braucht bloß den Willen dazu und die Beharrlichkeit und die Energie, auch dann ein Brett zu bohren, wenn es sich unendlich dick anfühlt. Ich möchte als schlecht verkappter Moralist dazu aufrufen, sich zu beteiligen: den gesellschaftlichen Entwicklungen mit den und durch die sozialen Medien eigene Entwürfe entgegenzustellen, und zwar genau dort – in den sozialen Medien, im Internet, in der Diskursöffentlichkeit.
Reclaim Social Media! Erobert die sozialmediale Gesellschaft zurück!
[1] Um das zu erkennen, musste man nicht erst Pegida und AfD abwarten. Bereits 2011 gab es eine über 10 000 Mitglieder starke Facebook-Gruppe, deren Mitglieder, die meisten mit Klarnamen, die Wiedereröffnung eines Konzentrationslagers forderten.
[2] Vgl. Eli Pariser, Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2012.
[3] Einige jedoch gibt es, und ich bin dankbar für jede und jeden einzelnen – darunter den Ethnographen Daniel Miller, der 2011 „Das wilde Netzwerk“ veröffentlichte und beschrieb, welche gesellschaftlichen Funktionen Facebook abseits seiner technisch beabsichtigten Funktionalitäten bekommen hat. Und es gibt, besonders hervorhebenswert, die in meinen Augen weltweit führende Internetsoziologin Zeynep Tufekci, eine türkisch-amerikanische Wissenschaftlerin, die soziale und politische Entwicklungen von Twittertiraden bis zum Social-Media-Phänomen der Proteste 2012 am Taksim-Platz erforscht.