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Es geht um Leben und Brot

Videos von Essen werden im Netz millionenfach geklickt. Dabei geht es nicht nur um Nahrungsaufnahme. Die Menschen fliehen manchmal vor einer anstrengenden, komplexen Realität.

Eines der meistgesehenen, wenn nicht das meistgesehene Video des Planeten im April 2016 ist 77 Sekunden lang, enthält außer ein paar Händen keine Person und kein Wort ist zu hören außer einer Art „Oh, yes“-Stöhnen beim Abspann. Stattdessen wird es begleitet von der Sorte Barjazz, die in Alte-Leute-Hotels gespielt wird.

Dieses Video hat seit dem 9. April auf Facebook in rund zehn Tagen unglaubliche 120 Millionen Views erreicht. Das meistgesehene Video aller Zeiten, „Gangnam Style“, brauchte 2012 noch 51 Tage, um die Marke von 100 Millionen Views zu erreichen.

Zwar lassen sich die Zählweisen von Facebook und Youtube nur sehr eingeschränkt vergleichen, aber der kurze Clip hat auch fast 2,8 Millionen Facebook Shares, 1,7 Millionen Likes (oder Reaktionen) und über 300.000 Kommentare verursacht, was wiederum die Zahl der Videoansichten einsortierbar macht.

Es handelt sich bei diesem absurd erfolgreichen Video um ein Rezept in Zeitraffer für „Churro Ice Cream Bowls“, eine Art frittierter Zuckerkrapfen, der zum Eisbecher umfunktioniert wird. Gut 14 Jahre, nachdem ein Broadway-Musical mit dem Ausspruch „The Internet is for porn“ knapp feststellte, was das Publikum im Netz bewegt, scheinen sich die Leute in Scharen auch einem anderen körperlichen Bedürfnis zuzuwenden.

Interessanterweise bezeichnet der Begriff „food porn“ seit Jahren für das Netz inszenierte Fotos und Videos von Mahlzeiten. Der selbst für „recipe porn“ außergewöhnliche Erfolg des Churro-Videos liegt auch darin begründet, dass es nicht bloß ein Rezept ist, sondern zugleich auch das, was man im Netz als „Life Hack“ bezeichnet. Also ein Trick der Umfunktionierung, eine charmante Idee der Umwidmung, der Life-Hacker als Meister der kreativen Anpassung einer starren Umwelt an die eigenen Bedürfnisse. Hier eben in Form eines essbaren Eisbechers aus Siedegebäck.

Internet und Essen beeinflussen sich gegenseitig

Und das Video über ein New Yorker Restaurant, das auf ästhetisch interessante Weise alle möglichen Gerichtemit geschmolzenen Käse-Fladen überzieht, kommt in einer Woche – völlig zu Recht! – auf sensationelle 80 Millionen Views. So viel wie der Star-Wars-Trailer zu „Das Erwachen der Macht“ in einem Jahr, und der war das drittmeistgesehene Video des Jahres 2015 .

Digitale Realität ist heute, dass Internet und Essen, eigentlich sogar Vernetzung und Ernährung, sich in ungeahnter Weise gegenseitig befruchten und beeinflussen.

Instagram zum Beispiel verändert die Art und Weise, wie Spitzenköche ihre Gänge anrichten, nämlich zugeschnitten auf Fotogenität. Die Qualität einer Fotografie kann darüber entscheiden, ob Hunderte Kunden für eine neue Kreation ins Restaurant strömen oder es von einer bestimmten Klientel gemieden wird.

In der Folge wird sogar das Lichtkonzept darauf abgestimmt, ob und wie man die Teller auf dem Tisch mit Smartphone-Kameras gut ablichten kann. Das digitale Auge isst mit, und nicht für eine Person, sondern für Hunderttausende.

Im Netz funktioniert Essen als Angelpunkt für den eigenen Lebensstil, zur Identifikation, als Ersatzreligion, als sozialer Kitt, als Überzeugungstat. Aufrufe zum veganen Leben; Diskussionen über Diäten, Körpergefühl und Diskriminierung; Debatten über die soziokulturellen und politischen Implikationen von Schweinefleisch.

Die vielen hochinteressanten Facetten von Ernährungskommunikation im Netz lassen sich hervorragend nachvollziehen, indem man nur fünf Buchstaben bei Google eingibt: „paleo“. Dahinter verbirgt sich ein Kurzwort zur Paläo- oder Steinzeit-Diät, mit Millionen begeisterten Fans. Dabei soll man abnehmen und sich energetischer fühlen, indem man sich ernährt wie in der Steinzeit.

Obwohl die Diät in der Regel sogar funktioniert, lässt sich die Begründung (und damit die Benennung) kaum wissenschaftlich halten. Aber darum geht es gar nicht. Denn Paleo ist die perfekte Internet-Diät. Sie besteht in erster Linie aus einem einleuchtenden Narrativ, einer Erzählung, die sich knapp zusammenfassen und weitererzählen lässt und die zugleich als nachvollziehbare Anleitung dient: Paleo ist die erste Mem-Diät, die durch das Narrativ Regelwerk, Motivation und ständige Erinnerung darstellt.

Das Foodblogging ist endlich angekommen

Essen ist das perfekte, nonverbale (und damit internationale verständliche) Symbol zur Inszenierung der eigenen Persönlichkeit, deshalb funktioniert es in sozialen Medien so gut. Und strahlt von dort zurück in die dingliche Welt. Es ist kein Zufall, dass Mitte April in Berlin-Neukölln die Polizei einschreiten musste – beim Massenansturm zur Eröffnung eines veganen Imbisses, gegründet von zwei Modebloggern.

Überhaupt ist das Foodblogging, mit dem die Liebe zwischen Netz und Nahrung vor langer Zeit begann, endlich angekommen. Eine Vielzahl von Kochenden und Backenden zeigen im Netz, was sie am Herd können, und die Dokumentation wirkt zugleich als nie endendes Kochbuch und als Werbung für die Profis und Halbprofis.

Essen hat den unschätzbaren Vorteil, dass es im Netz, einer doch kommerzbestimmten Welt, nicht als Werbung wahrgenommen wird, obwohl es Produkte abbildet.

Google, das sich der Verdatung selbst der Teile der Welt verschrieben hat, die kaum verdatbar erscheinen, arbeitet seit einiger Zeit an einer App namens Im2Calories, die per „Deep Dish Learning“ bestimmen soll, wie viele Kalorien eine Mahlzeit hat – nur anhand eines Smartphone-Fotos.

Mit einem Mal könnte ein Datenstrom entstehen, der weitreichende Folgen hat für die Gesundheitswirtschaft. Auch bei der Ernährung gilt Peter Druckers Diktum: „What gets measured, gets managed“, übersetzt ins 21. Jahrhundert: Was in einen Datenstrom verwandelt werden kann, wird ökonomisiert.

Im „New York Magazin“ hat die Autorin Dayna Evans im März versucht, Tasty auf den Grund zu gehen, dem „Buzzfeed“-Ableger, der das eingangs beschriebene Video veröffentlicht hat. Sie sieht in den Rezeptvideos „beruhigende Ein-Minuten-Meditationen“ und hat dem Videoproduzenten einen Grund für den Erfolg entlockt.

Er glaubt, dass die Aktivitäten auf sozialen Netzwerken ohnehin sehr oft direkte Beziehungen zum Essen hätten: sich mit Freunden und Familie austauschen, Erfahrungen dokumentieren, angenehme Erlebnisse teilen. Das ist sicher nicht ganz falsch, aber erscheint mir eher als zielgruppenfixierte Hilfserklärung eines Medienschaffenden.

Die Foodies werden mehr Views haben als die Kulturpessimisten

Meiner Ansicht nach funktioniert der Komplex Ernährung im Netz als erholsamer Ess-Eskapismus: die Flucht ins Essen vor der anstrengenden, komplexen, aggressiven Welt. Ein Gegengewicht, zu dem jeder eine Beziehung aufbauen und eine Meinung haben kann.

Auch die beschriebenen politischen Implikationen, oft begleitet von hitzigen Diskussionen, lassen sich so deuten. Nämlich als Schau- und Scheinkämpfe auf einem Ausweichschlachtfeld, auf dem es endlich einmal nicht um Leben und Tod geht, sondern um Leben und Brot. Zum Glück, zum eigenen, kleinen, temporären Glück, der Weltkrisen entfliehende Rückzug ins Gebratene, der Garten im Mund.

Kulturpessimisten werden auch bei dieser Entwicklung das Haarbüschel in der Suppe finden. Sie werden die völlig harmlosen und glücklicherweise neugierigen Hipster für ihre Ernährungsgewohnheiten verspotten. Sie werden publizierenden Veganern oder Paleo-Pionieren oder Keksbloggern vorwerfen, dass sie durch Essensfotos den Untergang der Kochkultur und damit eigentlich des gesamten Abendlandes beschleunigen.

Aber es wird egal sein, denn die Foodies werden mehr Views haben für ihr Chicken-Bacon-Ranch-Fries-Rezept in Form eines einzigen Animated Gif als alle Untergangsapologeten zusammen.

tl;dr 
Bacon (bzw. veganer Bacon-Ersatz aus Seetang) beherrscht die digitale Welt!

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