
Die Eskalation des Social-Nationalismus
Im Netz entsteht aus dem Brodeln nach den Übergriffen von Köln gerade ein furchteinflößender Trend. Aus der verbalen Gewalt gegen das Fremde wird reale Gewalt auf der Straße – gerade die Rechten sehnen einen Aufstand herbei.
Es brodelt. Und zwar auf eine Weise, die man unabhängig von der eigenen politischen Einstellung beängstigend finden kann. Außer man brodelt selbst auch und singt die dumpfen Lieder mit.
Ein ohne Zweifel grauenvolles Ereignis reicht aus, um einen Prozess der Entzivilisierung in Gang zu setzen. Man kann ihn in den sozialen Medien beobachten, und inzwischen wirkt er auf die Offline-Welt. Eine digitale Transformation der Gewalt, vom Gewaltpöbeln im Netz zum Gewaltpöbel auf der Straße.
Nach gegenwärtigem Stand haben in der Silvesternacht in Köln Männergruppen Frauen in extremer Form belästigt, auf eine Weise, die an kollektive, sexuelle Überfälle erinnert, die nach dem Arabischen Frühling in der westlichen Welt bekannt geworden sind. Die Tätergruppen scheinen in der Mehrzahl aus dem Maghreb zu stammen. Und auch, wenn noch nicht alle Tatsachen bekannt sind, wären Beschönigungen, Vertuschungen und Rechtfertigungen zweifellos Teil des Problems.
Ganz im Gegensatz zu möglichen Erklärungen. Während gewalttätige Übergriffe auf Frauen in jeder Weise und von allen Männern immer zu verurteilen sind, erfordert die Entwicklung von Strategien zur Verhinderung künftiger Taten aus meiner Sicht auch eine Diskussion um die Herkunft der Täter, ihre kulturell-religiöse Prägung, ihre Sozialisierung. Auch über die Rolle von Alkohol wird zu wenig gesprochen, aber die misogyne Haltung dieser jungen Männer dürfte die Triebfeder der sexuellen Gewalt gewesen sein, und der kann man sich kaum anders als über die Analyse deren Gesellschaftsbilder nähern.
Es erscheint längst überfällig, über Integration zu sprechen und wie sie gelingen kann. Als Person mit südamerikanischem Migrationshintergrund kann ich offenbar unbefangener mit diesem Thema umgehen. Das Problem ist nämlich, dass gelungene Integration gleichbedeutend ist mit dem vielgeschmähten Begriff Multi-Kulti. Alles andere würde nicht auf Integration, sondern auf Gleichmacherei hinauslaufen.
Social-Nationalismus, ein dumpfes Wir-gegen-die-Gefühl
Deshalb geht es nicht um Integration in den diffusen Begriff „Deutschland“ hinein, unter dem man politisch und kulturell gefärbt verstehen kann, was einem gerade in den Kram passt. Eigentlich geht es um die Integration in ein europäisch-aufgeklärtes Wertegebäude, vor allem also in eine demokratische, liberale Gesellschaft hinein.
Und an diesem Punkt greifen die Angriffe von Köln auf verhängnisvolle Weise in die Reaktionen darauf. Die Attacken von Männern, die sich um gesellschaftliche Werte, Grundrechte und Menschenwürde nicht geschert haben, werden beantwortet von Männern, die sich um gesellschaftliche Werte, Grundrechte und Menschenwürde nicht scheren. Die Angriffe von Köln dienen als Anlass für die Verfestigung einer Bewegung in den sozialen Medien und darüber hinaus: Social-Nationalismus, ein dumpfes Wir-gegen-die-Gefühl, das in sozialen Medien durch einen Angriff von außen konstituiert worden ist.
Der aufkeimende, neue Nationalismus, von dem ich im Sommer schrieb, steht jetzt nicht mehr nur der diffusen Gruppe „Flüchtlinge“ gegenüber, bei denen stets ein Hauch „Opferstatus“ mitschwingt, Opfer von Kriegen und Gewalt nämlich. Deshalb wollte der Rechtspopulismus immer von „Invasoren“ und „Illegalen“ sprechen, um die flüchtenden Opfer von Kriegen irgendwie verbal in Täter zu verwandeln.
Endlich gibt es Täter
Aber jetzt sehen sich diese Leute Tätern gegenüber. Und natürlich handelt es sich bei den Kölner Angreifern um echte, selbstredend zu bestrafende Täter. Nur ist es so falsch wie gefährlich, von diesen Männern auf die restliche Million Flüchtlinge sowie die restliche, zweistellige Millionenzahl von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land zu schließen.
Und doch ist genau dieser Prozess in Gang gekommen. Und zwar auch bei Leuten, die man bisher für immun gegen solche Verallgemeinerungen gehalten hätte. Die neue Qualität des Social-Nationalismus ist, dass sich in den sozialen Medien ein bürgerlicher Rückhalt für eine „harte Haltung“ gegenüber Flüchtlingen manifestiert hat. Und der Rechtspopulismus das als Morgenluft interpretiert, als Anfang eines herbeigesehnten „Volksaufstands“, bei dem unter Volk wie so oft „Bevölkerung minus Ausländer“ verstanden wird – endlich sei die bisher schweigende, bürgerliche Mehrheit auf unserer Seite.
Bürgerwehren organisieren sich im Netz im Glauben, eine imaginiert notwendige Verteidigung selbst in die Hand nehmen zu müssen. Die Nazi-Randale in Leipzig Connewitz ist aus genau dieser Haltung entstanden, die sich im Netz nachvollziehen lässt. Ebenso die Angriffe auf ausländisch aussehende Personen. Zum Beispiel die gewalttätige Attacke auf zwei israelische Studenten, die von sechs Rechtsextremen angegriffen und mit anti-arabischen Parolen beschimpft worden sind. Dass es ausgerechnet Israelis waren, ist nicht nur ein Hinweis auf den Irrwitz, den wir gezwungen sind Realität zu nennen, sondern vor allem auf die blinde Gewaltwut der Verallgemeinerung, die immer hinter Nationalismus steht und so auch hinter dem Social-Nationalismus.
Rechtspopulisten arbeiten mit dem Szenario eines angeblichen Bürgerkriegs
An dieser Stelle bin ich zwiegespalten, geradezu: ratlos. Denn auf der einen Seite verspüre ich Furcht und sogar Verzweiflung darüber, was in der Reaktion auf Köln geschieht und geschehen wird. Ich fürchte mich vor der möglichen Eskalation des Social-Nationalismus, möchte ihn analysieren und davor warnen.
Auf der anderen Seite arbeiten Rechtspopulisten gerade mit dem Szenario eines angeblichen Bürgerkriegs, eines Aufstands, einer Revolte. Montagabend schrie die Pegida-Frontfrau Tatjana Festerling in Leipzig: „Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“ Der Geist solcher Aussagen wird im Netz verfestigt und über Scharniere wie Pegida in die Kohlenstoffwelt transportiert. Dort gerinnen die Worte zu Gewalt.
Deshalb bin ich zwiegespalten, weil die notwendigen Warnungen vor der möglichen Entwicklung des Social-Nationalismus ebenso wie Vergleiche mit den Dreißigerjahren – zugleich auch das Bürgerkriegsgeraune unterstützen, das fatale Gefühl, unmittelbar vor einer Explosion zu stehen. Das nach gegenwärtigem Stand absurd ist, kein Land außer vielleicht dem Vatikan ist weiter von einem „Bürgerkrieg“ entfernt als Deutschland. Gefährlich ist die Lage trotzdem, weil im Rahmen des Social-Nationalismus eine Rechtfertigung konstruiert wird, endlich „zurückzuschlagen“.
Genau dieses Gefühl entspricht dem Brodeln, sich wehren zu müssen, weil der Rechtsstaat es nicht mehr hinkriegt. Die gewalttätigen Fraktionen der Social-Nationalisten wollen zurückschlagen, schnell und hart, und in Ermangelung der Täter von Köln – einfach jemanden, der halt so ähnlich aussieht. Natürlich völlig ohne Rücksicht auf die Opfer. Wieder.
tl;dr
Man kann im Netz der Entstehung des Social-Nationalismus zusehen, ausgrenzend, gewalttätig, eskalativ – mit zunehmendem bürgerlichem Rückhalt.
In einer früheren Version der Kolumne stand, Tatjana Festerling habe am Montag in Dresden gesprochen. Die Pegida-Frontfrau sprach jedoch in Leipzig. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.
Bin enttäuscht über Ihre 08/15 Reaktion auf die Pöbeleien in den sogenannten
sozialen Netzwerken. Den völlig falsch interpretierten Rassismus (eigentlich
die normale „Fremdelei) hat doch die Überfülle der „Emigranten“ ( eben Flüchtlinge)
ausgelöst und nicht die Bosheit der Menschen. Außerdem hat das nichts mit den überholten Begriffen rechts und links zu tun, verehrter Herr Lobo. Gruß J O B