
Sie haben mir Europa kaputt gemacht
Griechenland, Spähskandal, und jetzt spüren auch noch die Feinde des Internet in London und Budapest Rückenwind. Wie die Idee von Europa implodiert, ist bereits im Netz zu spüren.
Vielleicht bin ich ein Idiot – bitte nicht zu schnell zustimmen, ich möchte das erklären. Mein Eindruck ist, dass die Idee Europa implodiert, und ich verspüre dabei Schmerzen. Im Vordergrund spielt sich das Drama um Griechenland ab, bei dem man auch ohne tiefere Sachkunde erahnen kann, dass es dabei nur Verlierer gibt. Im Hintergrund zerfasert und zersplittert etwas, ein Europagefühl, irgendwie. In vielen Bereichen geht etwas kaputt, aber in der digitalen Sphäre ist es für mich leichter zu erkennen.
Der gefährlichste Mann Europas, David Cameron, steht kurz davor, faktisch WhatsApp und iMessage zu verbieten sowie insgesamt Privatnachrichten, die die Bezeichnung „privat“ auch verdienen. Das dazugehörige Zitat des britischen Premierministers lautet:
„Wollen wir in unserem Land Kommunikationsmittel zwischen Menschen erlauben, die wir [als Staat] nicht lesen können? Meine Antwort auf diese Frage ist: Nein, wir dürfen das auf keinen Fall erlauben.“
Das ist ein Zitat, das Stalin nicht totalitärer hätte formulieren können. Ich empfinde diese Aussage als Katastrophe, als Aufkündigung ungefähr jeden Wertes, den ich mit einem demokratischen Europa verbinde: die Abschaffung nicht nur der Privat- sondern auch der Intimsphäre, die Abschaffung einer freien, also unüberwachten Presse, die Abschaffung der Meinungsfreiheit, die es nur geben kann, wenn man sich nicht vom Staat allüberwacht fühlen muss.
Mich wundert, dass ein sich demokratisch nennender Staatschef in Europa so etwas sagen kann, ohne von anderen Staatschefs harsch zurechtgewiesen zu werden. Es ist ja nicht so, als seien harsche Zurechtweisungen unter europäischen Staatschefs gerade diplomatisch undenkbar.
Eigentlich wundert es mich aber doch nicht, weil die Finanzkrise auch eine eigene Deutungshoheit über Europa gestülpt hat. Der Begriff Europa ist von einer gemeinsamen Idee zu einem gemeinsamen Geldproblem geworden. Im Schatten des fortdauernden Krisengetöses könnte alles passieren und wäre doch nur Fußnote. Genauer gesagt passiert auch alles, siehe Cameron. Und nicht nur dort.
„Jeder Stich ein Griech'“
Viktor Orbán zum Beispiel schafft in Ungarn einen nach eigener Aussage „illiberalen Staat“, der in meinen Augen leichtfüßig zwischen „autoritär“ und „faschistoid“ hin- und hertänzelt. Vom CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich bei seiner Wiederwahl begeistert begrüßt, hat Orbán besonders an zwei Fronten am illiberalen Staat gebaut: in der radikalen, nationalistischen Politik gegenüber Flüchtlingen und Minderheiten und in der erbitterten Feindschaft gegenüber einer freien Medienlandschaft samt freiem Internet.
Über eine „Internetsteuer“ sollte im Herbst 2014 eine Art finanzieller Zugangsbeschränkung geschaffen werden. Nach Massenprotesten verschob Orbán die Steuer, ohne sie aufzugeben. Orbán führt das EU-Mitglied Ungarn ganz ungeniert in eine medial gleichgeschaltete Diktatur, Schritt für Schritt.
Währenddessen in Deutschland. Wolfgang Schäuble hat sich mit seinen „harten Sprüchen“ über Griechenland in die Hartherzen eines erstaunlich großen Bevölkerungsteils gegrantelt. Der CDU-Vizevorsitzende Thomas Strobl erklärt: „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“ Der Grieche. Dieser Sound ist gut bekannt aus dem preußischen Reim, „Jeder Stoß ein Franzos‘, jeder Schuss ein Russ'“, man muss wahrscheinlich froh sein, dass Strobl nicht dichtete: „Mit einem Tritt zum Grexit“, mein Vorschlag für das nächste Mal wäre: „Jeder Stich ein Griech'“.
Und Angela Merkel ist erleichtert, dass die unmittelbar vor der Griechenlandeskalation brenzlig gewordene BND-Affäre aus den Schlagzeilen gedrängt wurde. Ihre Sprecher konnten deshalb ohne größere Aufmerksamkeit erklären, dass man die Selektoren-Liste des BND nicht herausgeben könne, weil sie der NSA gehöre. Ich möchte mir mit einem mittelgroßen Holzbalken mehrfach vor die Stirn schlagen. Das ist die Erklärung? Eigentlich fehlt nur der Verweis, man fürchte die Abmahnung wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht.
War Europa nicht als Wertegemeinschaft gedacht?
Der BND überwacht von Steuergeldern bezahlt die deutsche Wirtschaft, Politik und Bevölkerung im Auftrag der NSA – aber die beauftragende Liste der Überwachungsziele gehört der NSA? Das ist die digitale Entsprechung einer Anzeige wegen Sachbeschädigung gegen ein Opfer, weil es den Knüppel des Schlägers mit seinem Blut völlig verschmutzt habe.
Ich habe nach einer schriftlichen Entsprechung für das Europa-Gefühl gesucht, das mir soeben kaputt gemacht wird. Irgendwoher muss doch mein Eindruck stammen, dass eigentlich eine Art Wertegemeinschaft gedacht war. Ursprünglich. Ich habe eine Passage in den maßgeblichen Verträgen der EU gefunden, nämlich die Präambel, in der wunderschön der Ursprung der gemeinsamen Idee Europas beschrieben wird:
„…SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben… IN DEM WUNSCH, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken…“
Insgesamt enthält allein dieser Eingangssatz 3800 Zeichen und über 30 Nebensätze, vielleicht hätte man da bereits misstrauisch werden können. Aber es liest sich schon toll, dieses schriftlich niedergelegte Wertefundament, unterzeichnet mit goldenen Füllfederhaltern, in feierlichen Aufzügen. Ich kriege es bloß so überhaupt nicht in Einklang mit den beschriebenen Entwicklungen.
Und die neue, superbesorgniserregende Qualität daran ist, dass das nicht hintenrum passiert – sondern ganz offen. Cameron sagt offen, was er sagt. Orbán tut offen, was er tut. Merkel lässt offen bleiben, was sie tut und was nicht, sie lässt ansonsten ihre Stellvertreter offen chauvinistisch pöbeln und holzen.
Das kommt mir wie die Aufkündigung genau dieses gesamteuropäischen humanistischen Erbes vor, „unverletzliche und unveräußerliche Rechte“, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, „universelle Werte“, das gerinnt alles zu Gelaber. Diese Leute machen die Idee von Europa kaputt! Und es ist ja nicht nur meine Idee, sondern die ursprünglich herbeipräambelte. Aber wie eingangs gesagt, kann es auch einfach sein, dass ich ein Idiot bin, weil ich dachte, das sei irgendwie ernst gemeint.
tl;dr
Die Idee Europa zerfällt, und das ist ein Drama, dessen Ausmaß heute kaum erahnbar scheint.