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Bevormundet durch die Zahnbürste

Die erste Krankenversicherung bietet Rabatte an, wenn Kunden per App ihr Verhalten messen lassen und laut Algorithmus „gesünder“ leben. Dahinter steckt eine ganz eigene Philosophie – mit schwerwiegenden Folgen.

Cass Sunstein ist Rechtsprofessor in Harvard und war von 2009 bis 2012 Chef einer kleinen Exekutiv-Behörde im Weißen Haus namens Office of Information and Regulatory Affairs. Eine der Aufgaben ist die Vermessung der Gesellschaft, und zwar mit dem Ziel, die Effizienz aller möglichen Regierungsmaßnahmen zu erhöhen, in den verschiedensten Bereichen von Technologie über Transport und Ernährung bis zur Sicherheit. Ausschlaggebend für Sunsteins Berufung war sein Bestseller von 2008, ein Buch mit dem Namen „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“.

Dieses Buch gilt als Standardwerk der Verhaltensökonomie, genauer: Es ist das Schlüsselwerk für eine bestimmte Denkschule. Sunstein und sein Co-Autor Richard Thaler haben dafür 2003 einen merkwürdigen Namen gefunden: libertärer Paternalismus. Der Begriff erscheint zunächst widersprüchlich, weil „libertär“ die Freiheit zur Entscheidung beinhaltet und Paternalismus dieser Freiheit entgegenwirken möchte.

Tatsächlich ist der Begriff eine Farce, denn die Denkschule von Nudge treibt eine neue Form der ökonomisch sanktionierten Bevormundung voran. Und die digitale Vernetzung samt ihrer Sensorenflut eignet sich hervorragend dafür, eine neue Form des digitalen Paternalismus in die Gesellschaft einzupflanzen: das Netz als gesellschaftliches Steuerungsinstrument.

Krankenversicherung schaut per App beim Leben zu

Die Generali-Versicherung hat im November 2014 einen neuen Tarif vorgestellt, bei der man mit einer App ständig sein Verhalten messen und an die Versicherung übermitteln soll. Diejenigen, die sich nach algorithmisch berechneter Einschätzung der Versicherung „gesünder“ verhalten, bekommen Vergünstigungen.

Diese Anwendung ist einer der ersten Ausläufer einer neuen Verhaltensökonomie der Vernetzung, die tiefer und unmittelbarer in den Alltag eindringt als je zuvor. Nach meiner Einschätzung ist nicht automatisch jede Verbindung aus Monitoring und Versicherungsleistung böse. Vielmehr beruht das Geschäftsmodell von Versicherungen schon immer auf Risikoeinschätzung, und dafür ist Datenerhebung notwendig. Bisher geschah das zum Beispiel über Fragebögen und allgemeine, statistische Auswertungen, da erscheint es naheliegend, dass neue Mess- und Abfragemethoden auch hier Einzug halten.

Die Zahnbürste, die Bürstmuster auf den Zahn genau misst

Aber es gibt eine Grenze, wo legitime wirtschaftliche Abwägungen in digitale Bevormundung umschlagen. Diese Grenze ist oft nicht leicht zu erkennen, von Anwendung zu Anwendung unterschiedlich und in vielen Fällen schon lange vorhanden und gesellschaftlich akzeptiert. Eine neue Qualität aber ergibt sich vor allem aus drei revolutionären Aspekten:

  • die ständige Vermessung des Verhaltens
  • die mögliche Auswertung in Echtzeit
  • die sofortige ökonomische Sanktionierung von Verhalten

Natürlich geht es nicht nur um Krankenversicherungen. Autoversicherungen funktionieren inzwischen ebenso über eine ständige Vermessung des Verhaltens. Anfang 2014 wurde auf der Technologie-Messe in Las Vegas „Kolibree“vorgestellt, eine Zahnbürste, die bis auf den einzelnen Zahn genau die Bürstmuster des Zähneputzens misst. Es entstehen Daten, die für eine Zahnversicherung höchst relevant sein dürften. Letztlich lässt sich alles, was messbar scheint, auch in eine profilbasierte Auswertung pressen – und genau die gilt als Zukunft fast aller datenökonomischen Entwicklungen.

Kredite, Jobvergabe, Preisnachlässe oder Aufschläge bei sämtlichen Konsumentscheidungen sind nur die offensichtlichsten Bereiche, die schon heute profilbasiert funktionieren. Mit dem Eindringen der digitalen Vernetzung in den Alltag werden diese Profile potenziell nicht nur um Einzelfakten angereichert („Sind Sie Extremsportler?“) – sondern um einen ständigen Datenstrom, der sich jederzeit aus dem eigenen Verhalten ergibt („Sie sind am 23. Mai um 11.37 fast 75 Meter im freien Fall gestürzt – räumlich in der Nähe einer Bungee-Anlage.“).

Was die Daten sagen, muss wahr sein

Hier geschehen zwei Dinge zugleich: Aus verknüpften Daten wird eine vermeintliche Eindeutigkeit künstlich hergestellt. Das ist fatal, weil dabei implizit eine radikale Technologiegläubigkeit mitschwingt: Was die Daten sagen, muss wahr sein. Gleichzeitig aber werden zuvor irrelevante Einzelereignisse im Verhalten jedes Menschen messbar und damit Teil der Auswertung.

In der direkten Folge wird das Verhalten im Alltag ökonomisiert. Jede Entscheidung bekommt potenziell ein Preisschild, die Entscheidung für einen Bungeesprung ebenso wie die für eine Vollbremsung im Auto. Das ist kein Zufall, sondern sogar Kern der Absicht. Denn diese Ökonomisierung ist das Ziel der Nudge-Schule, dort gilt der Markt als ideales Instrument zur Steuerung der Gesellschaft.

Freiheit gut und schön, aber man muss den Leuten schon deutlich zeigen, dass jede Entscheidung wirtschaftliche Folgen hat. Hier offenbart sich das wahre Wesen des „libertären Paternalismus“ – der treffendere Name wäre neoliberaler Paternalismus: Man kann tun, was man will, solange man es sich finanziell leisten kann.

Die Vermessung darf nicht gegen die Freiheit eingesetzt werden

Es ist kein Zufall, dass David Cameron, die unmenschgewordene Gesellschaftsverachtung, nicht nur Nudge als Blaupause seiner Regierungsvision betrachtet. Sondern dass Mitautor Richard Thaler 2010 auch Berater der „Nudge-Unit“ von Cameron wurde. Ihr offizieller Name ist Behavioural Insights Team, oder vielmehr: war. Denn inzwischen wurde das Regierungsteam ein privates Unternehmen.

Nudge ist in der gegenwärtigen Ausprägung eine Doktrin, die die schlechtesten Seiten der politischen Flügel verbindet: Linker Paternalismus wird gekoppelt mit dem neoliberalen Marktpriestertum der Konservativen. Die Gesellschaft muss sich dagegen wehren, dass der digitale Fortschritt von dieser Denkschule politisch und ökonomisch vereinnahmt wird. Dass also die neuen Vermessungsmöglichkeiten des Verhaltens für und nicht gegen die Freiheit eingesetzt werden.

Wenn das nicht geschieht, entsteht eine Welt, in der man eine Textnachricht von seiner Zahnbürste bekommt, dass man innerhalb der nächsten zehn Minuten die Zähne putzen muss, um nicht seine Zahnzusatzversicherung zu verlieren. Cass Sunstein, Richard Thaler und David Cameron halten das für erstrebenswert. Ich nicht so.

tl;dr Die hässliche Denkschule des „libertären Paternalismus“ hat mit der Vereinnahmung der digitalen Vernetzung begonnen.

Anmerkung des Autors: Ich habe mit verschiedenen Versicherungen (Konkurrenten der Generali) bezahlte Vorträge/Workshops abgehalten, in denen es auch um Macht und Möglichkeiten der ständigen Selbstvermessung ging.

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