
Wie einzigartig ist die digitale Welt?
Im Netz gelten andere Regeln. Diese Annahme ist noch immer weit verbreitet, muss aber überdacht werden. Denn die digitale und nichtdigitale Welt verschmelzen rasant. Die entscheidende Frage wird sein: Welche zwingt der anderen ihre Gesetze auf?
Bestandsdatenauskunft, Bundestrojaner, Vorratsdatenspeicherung – dem ersten Anschein nach teilen ein digital durchschnittlich begabter Innenminister und ein beliebiger Netzaktivist nicht unbedingt viele gemeinsame Positionen zum Internet.
Um die übergeordneten Parallelen zu verstehen, muss man sich mit dem der Weltöffentlichkeit weitestgehend unbekannten Kirby Brown auseinandersetzen. Dieser war 2005 Vorsitzender eines texanischen Jägerverbands und fühlte sich in dieser Eigenschaft von einer Website moralisch abgestoßen. Es handelte sich um die Seite live-shot.com, auf der ein texanischer Unternehmer namens John Lockwood – nur homöopathisch bekannter als Brown – einen kostenpflichtigen Service anbot: Nutzer konnten gegen eine Gebühr per Internet ein mit einer Webcam ausgerüstetes Gewehr steuern und abfeuern. Internet-Hunting. Der Jägerverbandsvorsitzende Kirby Brown erklärte: „Das ist ethisch unterste Schublade!“
Dass ein organisierter Tieretöter ethische Probleme mit der Tieretötung per Internet hat, irritiert zunächst. Dahinter steht aber exakt die Haltung, die ausgesprochene Netzskeptiker und die größten Internetfans eint: Internet-Exzeptionalismus. In dem inhaltlich noch immer führenden, kostenlosen Ebook „The Next Digital Decade“ von Anfang 2011 wird diese Welthaltung präzise erklärt. Internet-Exzeptionalismus bedeutet, die digitale Sphäre für so besonders zu halten, dass die Regeln und Grundsätze des Nichtdigitalen dort kaum anwendbar wären. Kurz: Ein virtueller Brief ist nicht das Gleiche wie ein Brief.
Was verändert sich durch die Virtualisierung?
Diese Diskussion bekommt eine neue, verstörende Facette. Mit der Debatte um den zielgerichteten Einsatz militärischer Drohnen nämlich, gewissermaßen ein staatliches live-shot.com für Generäle also. Die Essenz dabei ist die Fernsteuerung per Datenleitung und die Frage, was der Unterschied ist zwischen lokal bemanntem und fern bemanntem Kriegsgerät. Die Parallele zum Internet-Exzeptionalismus besteht aus der Frage: Was verändert sich durch die Virtualisierung?
Viele Schwierigkeiten, die sich zwischen Internet, Gesellschaft und Politik ergeben haben, resultieren direkt aus dem Internet-Exzeptionalismus. Eine Maßnahme wie Vorratsdatenspeicherung lässt sich überhaupt nur ohne rechtsstaatliche Schamesröte denken, wenn man das Netz als etwas völlig anderes betrachtet. Würde jemand in der nichtdigitalen Welt eine vorsorglich überwachende Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten der gesamten Bevölkerung ohne jeden Anlass vorschlagen – intime Briefe, Gespräche mit Kollegen, gelesene Zeitungsartikel, Bücher und so fort – der betreffende Politiker würde medial geteert und gefedert oder gar in die CSU strafversetzt.
Allerdings ist Internet-Exzeptionalismus keine alleinige Tugend der Überwachungsfreunde. Vielmehr krankt die Diskussion um das Netz und damit die gesamte Netzpolitik daran, dass sich fast jeder nach Belieben zurechtlegt, wann das Netz ganz anders als die Kohlenstoffwelt zu sein hat – und wann es gefälligst nach genau den gleichen Regeln funktionieren soll. Am Beispiel der Anonymität lässt sich dieser Umstand leicht erkennen: Auf der Straße entlangzugehen ist – ebenso wie die Teilnahme an einer politischen Demonstration – anonym möglich. Autofahren dagegen ist nur mit identifizierbarem Nummernschild erlaubt. Was wäre die geeignetere Parallele zum Datenverkehr?
Trotzdem gäbe es viele Probleme nicht, wenn sich die relevanten Teile der Politik ihres Internet-Exzeptionalismus überhaupt bewusst wären. Denn das derzeitige Bemühen vieler Netzaktivisten weltweit dreht sich hauptsächlich darum, für Bürgerrechte im Internet zu kämpfen, die außerhalb davon längst außer Frage stehen. Und das, obwohl zu Beginn mit John Perry Barlows „Declaration of the Independence of Cyberspace“ der Internet-Exzeptionalismus für die Netzbegeisterten als einzig logischer Weg galt. Vom Gefühl des durchschnittlichen Internetaktivisten ist das Netz selbstredend etwas völlig Einzigartiges, Besonderes, anderes als der Rest der Welt. Und nun muss notgedrungen argumentiert werden, das Netz sei gar nicht so anders, damit wenigstens die Grundregeln des Rechtsstaats im Digitalen nicht über den Haufen geworfen werden.
Zunehmende Verschmelzung der digitalen Sphäre mit der nichtdigitalen Welt
Diese einigermaßen ernüchternde Verschiebung geht mit einer zunehmenden Verschmelzung der digitalen Sphäre mit der nichtdigitalen Welt einher. Dieser Prozess erfordert, über Internet-Exzeptionalismus völlig neu nachzudenken. Denn es entsteht ein Graubereich, eine Art Niemandsland zwischen online und offline. Wie überraschend und vielschichtig die dortigen Wirkungen sein können, lässt eine Meldung von April 2013 erkennen. Der Heizkesselhersteller Vaillant gab eine Schwachstelle in der vernetzten Kesselsoftware bekannt. „Meine Heizung wurde gehackt“ war vor fünfzehn Jahren ein mittelschlechter Gag. Heute ist es ein reales Gefährdungsszenario und Sinnbild dafür, dass das Netz und seine Regeln nicht mehr weggehen, wenn man den Laptop zuklappt.
Drei Entwicklungen der digitalen Sphäre sorgen dafür, dass das Netz immer tiefer in die Gesellschaft eindringt, und mit ihm seine Vorteile, Funktionsweisen und Schwachstellen:
- die Fernsteuerbarkeit der Apparatelandschaft von selbstfahrenden Autos über Smart Homes bis hin zu militärischem Gerät;
- die Verbindung von ungefähr allem mit dem Netz zum lang angekündigten Internet der Dinge – schon 2011 stellte Google eine Glühbirne mit W-Lan vor, man traut sich kaum, „Klopapier mit W-Lan“ zu googeln;
- der Vormarsch des Netzraums, der Augmented Reality oder digital angereicherten Wahrnehmung der Realität.
Zwei Welten sind entstanden, sie rasen aufeinander zu, und wo sie aufeinanderprallen, wird immer erbitterter um vermeintliche und tatsächliche Selbstverständlichkeiten gekämpft. Die Frage wird sein, welche Seite der anderen ihre Regeln eher aufzwingt. Und für wen das letztlich wünschenswert ist.
Im Jahr 2005 war die Antwort eindeutig. Im Nachgang der Diskussion um live-shot.com verboten mehrere US-Bundesstaaten das Internet-Hunting. Und in der richtigen Stimmung für Netzverbote untersagten sie Internet-Fishing gleich mit. Mit einem Sturmgewehr ein Tier zu erschießen ist Alltag. Mit einem Mausklick ein Tier zu erschießen ist pervers. Aha.
tl;dr
Mit der zunehmenden Virtualisierung steht der unterdiskutierte Internet-Exzpetionalismus zur Debatte. Ist das Netz anders als die Welt?