
Die Stunde der Breitband-Dummdeuter
Lahmes Netz, lahmer Ausbau, viel Schönrederei: Beim Breitbandausbau definieren Politiker ihr Versagen weg. Mobiles Breitband gibt es angeblich schon, wenn man nah genug an einem LTE-Mast wohnt – ganz egal, wie mies die Übertragung ist. Solche Verschleierungen sollen Investitionen verhindern.
Eine große Gesellschaftsplage des 21. Jahrhunderts braucht wegen ihres gehäuften Auftretens endlich eine eigene Bezeichnung: das Dummdeuten, eine Mischung aus „für dumm verkaufen“ und „umdeuten“. Mit dem Erfolg der Massenmedien entwickelte sich die uralte Kulturtechnik des Flunkerns zu einer dunklen Kunst zwischen Politik, Schönrederei und Propaganda. Dummdeuten beruht auf der Existenz von Sätzen, die sich irgendwie richtig anhören, aber es nicht sind. Dummdeuten heißt, faktenhaft anmutende Formulierungen so zu drehen und zu wenden, dass keine allzu offensichtliche Lüge dabei herauskommt – und trotzdem die Wahrheit verschleiert wird.
Manchmal reicht für die Dummdeutung schon ein einziges Wort. Ein solches Wort ist in Deutschland Breitbandstrategie. Diesem Begriff wohnt die Unverschämtheit inne, den hiesigen Umgang mit der digitalen Infrastruktur ernsthaft als Strategie zu bezeichnen. Anfang 2013 dekretierte die französische Regierung, 20 Milliarden Euro in Glasfasernetze zu stecken, um „Schluss zu machen mit Kupfer“. Das Bundeswirtschaftsministerium schreibt dagegen zum Thema Breitbandausbau: „In einigen Fällen kann auch der Einsatz von Fördermitteln erforderlich sein, wenn andernfalls eine Erschließung auf mittlere Sicht nicht darstellbar ist.“
Noch lascher lässt sich kaum erklären, dass man kein Geld in die Hand nehmen möchte. Stattdessen dummdeutet das Ministerium die eigene „Strategie“ zum Erfolg um. „Breitbandausbau geht zügig voran“ lautet der Titel einer Pressemitteilung von März 2013. Schon das lässt Schlimmes erahnen: Schließlich kann man auch von einem Tiefpunkt aus zügig vorangehen. Die Aussagen unter dieser Überschrift aber sind ein Kleinod oder vielmehr Großod der Dummdeutung:
- Es beginnt damit, dass in Deutschland 50 Megabit pro Sekunde (Mbit/s) als leuchtendes Ziel hochgehalten werden, während in den meisten anderen Industrieländern längst 100 Mbit/s die Orientierungsmarke darstellt.
- Ganz bewusst vermischt das Ministerium die Mobilfunktechnologie LTE mit dem kabelgebundenen Netz. Nicht nur, dass LTE erheblich billiger ist, weil keine Luftleitungen verlegt werden müssen. Es handelt sich um unterschiedliche Technologien für unterschiedliche Zwecke, die gesondert betrachtet werden müssten.
- „Mobiles Breitband“ liegt bereits dann vor, wenn sich ein Haushalt in Reichweite einer LTE-Sendeanlage befindet – unabhängig von der tatsächlich erzielbaren Datenübertragungsrate. Wer schon mal an einem Ort mit vielen Mobilfunknutzern gleichzeitig war, ahnt, wie untauglich der bloße, nominelle Empfang ist, um irgendetwas über Bandbreiten sagen zu können. Die LTE-Abdeckung (laut Breitbandatlas) ist also allenfalls eine theoretische Breitbandabdeckung.
- Eine herausstechend dummgedeutete Formulierung findet sich als Einleitungsbehauptung: „Unser Land belegt bereits heute einen Spitzenplatz in der Europäischen Union bei der Versorgung der Haushalte mit Hochleistungsnetzen.“ Bei näherer Betrachtung ist die „Versorgung mit Hochleistungsnetzen“ etwas völlig anderes als tatsächliche Geschwindigkeit. Die Firma Akamai, die im Hintergrund bis zu 30 Prozent des gesamten Web-Traffics verteilt, hat Ende 2012 gemessen: Die durchschnittliche Geschwindigkeit in Deutschland liegt bei 6 Mbit/s, mehr als 10 Mbit/s erreichen nur 8,8 Prozent der Anschlüsse. In Rumänien sind es 7 Mbit/s und 16 Prozent. In der Schweiz, deren landschaftliche Gegebenheiten nicht eben benutzerfreundlich für die Kabelverlegung sind, liegen die Werte bei 8,7 Mbit/s und 23 Prozent der Anschlüsse. Von einem Spitzenplatz kann man also ausgehen. Wenn man eine umgedrehte Pyramide betrachtet.
- Um auch wirklich alle relevanten Formen der modernen Dummdeutung abzubilden, wird das Wort Glasfaser aggressiv verschwiegen: Es kommt in der Erklärung exakt null mal vor (0 Prozent). Als spräche man über Tageslicht und wollte die Sonne auf keinen Fall erwähnen.
Nur vor diesem politischen Metaversagen, genial verdichtet in der dummgedeuteten Erklärung des Wirtschaftsministeriums, ist der harakirihafte PR-Stunt der Deutschen Telekom zu erklären, sich von der Netzneutralität zu verabschieden. Denn die Idee der Bundesregierung, die digitale Infrastruktur vom Markt richten zu lassen und nur homöopathisch zu unterstützen, stürzt insbesondere die Telekom in ein Dilemma: Sie muss eine extrem teure und durchregulierte Infrastruktur herstellen. Gleichzeitig muss sie als börsennotiertes Unternehmen vergleichsweise kurzfristig Gewinne erwirtschaften. Fast als müsste VW erst Straßen bauen, um Autos zu verkaufen.
Diesem politisch gewollten Problem hofft die Telekom natürlich wiederum per Dummdeutung zu entgehen. Während die angekündigte Drosselung nur eine Verbraucherzumutung darstellt, ist die eigentliche Katastrophe, sämtliche „Managed Services“ einfach nicht als Teil des Internets zu betrachten. Das zwingt mittelfristig datenintensive Netzunternehmen, zusätzliches Geld an Provider zu bezahlen: Das ursprüngliche Internet wird zum datenseichten Nichtschwimmerbecken, alles andere sind zubuchbare Services, das Ende der Netzneutralität. Gleichzeitig investiert die Telekom in Technologien wie Vectoring, einen technischen Trick, der den Datendurchsatz von Kupferleitungen erhöht. Ein bestimmt völlig zufälliger Nebeneffekt ist, dass Vectoring nur sinnvoll funktioniert, wenn ein einzelnes Unternehmen alle Datenströme koordiniert – und damit kontrolliert. Nur sind Kupferleitungen das Kopfsteinpflaster des Internet. Und Vectoring heißt, auf der Straße neue Ampeln aufzustellen, dann fließt der Verkehr schneller. Es muss aber, mit den Worten des französischen Präsidenten gesprochen, um den Abschied vom Kupfer gehen. Die Rede war schließlich von Datenautobahnen, nicht von Datenfeldwegen.
Ein simples Gedankenexperiment zeigt, wie weitreichend die politischen Entscheidungen zur digitalen Infrastruktur sind. Seit 2012 bietet Google in ausgewählten US-Städten Gigabit-Internet an – eintausend Mbit pro Sekunde, direkt in die Haushalte. Ist es so absurd anzunehmen, dass Google Vergleichbares in Deutschland durchführen könnte? Und wäre es eine gesellschaftlich und wirtschaftlich erstrebenswerte Situation, wenn der 96-prozentige Suchmarktführer in Deutschland zugleich das einzige Unternehmen mit echten Hochgeschwindigkeitsdatenleitungen wäre?
Es führt kein Weg an massiven staatlichen Investitionen in eine netzneutrale Glasfaserinfrastruktur vorbei. Deutschland braucht einen Netzpfennig, einen Fonds mit 100 Milliarden Euro zur Sicherung der digitalen Infrastruktur. Auf einer solchen Basis kann und muss dann echter Wettbewerb stattfinden, denn wirklich niemand wünscht sich die Bundespost zurück. Erst wenn diese Grundlage politisch gelegt ist, handelt es sich bei dem Wort Breitbandstrategie nicht mehr um eine Dummdeutung.
tl;dr
Die derzeitige Breitbrandstrategie: Schtonk.