Menu

#digitaleöffentlichkeit

Ein simples Stichwort kann verändern, wie Themen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Solche Hashtags machen sichtbar, welche Themen der digitalen Öffentlichkeit wichtig sind. Sie sind die Straßendemos des Internets. Ein aktuelles Beispiel zeigt ihre besondere Macht.

In der Nacht zum 23. August 2007 machte der Web-Designer Chris Messina einen simplen Vorschlag, der die sozialen Medien veränderte und eine neue Spielart von Öffentlichkeit ermöglichte. Sanft vereinfacht waren die Eckpfeiler der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert die Massenmedien und die Straße. Chris Messina erfand auf Twitter den Hashtag, das einordnende Stichwort, gekennzeichnet durch eine Raute. Damit schuf er das schlagkräftigste Werkzeug für eine digitale, soziale Öffentlichkeit – das Instrument, mit dem zum Beispiel unter #jan25 2011 die ägyptischen Aufstände im Detail öffentlich sichtbar wurden.

Diese massenhafte Sichtbarkeit stellt den Unterschied dar zwischen einer öffentlichen Information, wie einsehbare Akten im Katasteramt, und einer Information, die in der Öffentlichkeit angekommen ist und deshalb wirksam wird. Soziale Medien machen sie sichtbar und der Hashtag bündelt ihre Kraft. Auf Twitter ist der Hashtag nicht nur ein Stichwort, seit 2009 funktioniert er als Link zu einer Twitter-weiten Suche über genau dieses Stichwort. Diese Mechanik hat sich im Verbund mit Twitters Rangliste der meistbesprochenen Begriffe, den Twitter-Trends, zum machtvollsten Instrument des Agenda-Settings im Internet entwickelt. Der Erfolg von Twitter, die darauffolgende Twitterisierung von Facebook, die Einführung von Hashtags auf Google+ – daran hat Messinas Idee des #Netzstichworts großen Anteil.

Auf den Tag drei Jahre nach #jan25 ist in Deutschland der Hashtag #aufschrei entstanden. Vorgeschlagen von Anne Wizorek, wurden darunter sexistisch motivierte Übergriffe auf Frauen gesammelt. In kaum zweieinhalb Tagen wurden mehr als 60.000 Tweets mit dem Stichwort veröffentlicht. Es lässt sich nur schätzen, wie viele im ursprünglichen Sinn verwendet wurden und nicht aus Gründen der Witzelsucht, der Häme oder des Widerspruchs. Ohne Zweifel aber hat der Hashtag #aufschrei die deutsche Öffentlichkeit verändert. Die Themen, die bis dahin aus dem Netz in die massenmedialen Redaktionen geschwappt waren, waren entweder netzeigene Themen wie 2009 die Netzsperren mit dem Hashtag #zensursula. Oder es handelte sich um Ereignisse, die ihre große Verbreitung auch ohne Internet erreicht hätten, wie Guttenbergs ge-copy-te Doktorarbeitspaste.

#aufschrei ist ein kaum überschätzbarer Schritt in Richtung einer digitalen Öffentlichkeit in Deutschland. Seine Kraft gewann #aufschrei in der Sichtbarmachung der Erlebnisse Tausender Frauen, die bis dahin nichtöffentlich waren. Der Hashtag hat hier seine drei Grundfunktionen mustergültig erfüllt:

  • Einordnung: Ein Hashtag ist die spontane Bildung einer Art Überschrift, unter der vielstimmig Nanogeschichten um ein Themenfeld erzählt werden.
  • Appell: Ein Hashtag ist zugleich die Aufforderung, selbst mit zu erzählen.
  • Auffindbarkeit: Ein Hashtag ermöglicht auch ohne eigene Kontakte, die Beiträge zu einem Thema aufzufinden.

Inzwischen gibt es knapp unter einer Million aktive, deutschsprachige Twitter-Nutzer, darunter viele Netz-Multiplikatoren und Journalisten. Ihr subjektiver Eindruck bestimmt die mediale Agenda mit, von dort pflanzt sich ein erfolgreicher Hashtag durch die Redaktionen bis in die Talkshows fort – die komprimierten Geschichten mehr oder weniger eng im Schlepptau. Der Hashtag fungiert als Scharnier zwischen den sozialen und den redaktionellen Medien. Der eigentliche Grund aber, weshalb #aufschrei so wichtig, wertvoll und wegweisend war, liegt gleichermaßen im Thema selbst und im Netz verborgen.

Bis zum #aufschrei herrschte offensichtlich ein immenses Ungleichgewicht zwischen den Alltagserlebnissen sehr, sehr vieler Frauen und der fehlenden Thematisierung in der Öffentlichkeit. Der am eigenen Leib gespürte Sexismus, das Wissen um seine Allgegenwart – und die ungenügende Abbildung in klassischen Medien. Einige der politischen und medialen Reaktionen zum auslösenden Fall Brüderle lassen die Gründe für die Marginalisierung des Alltagssexismus erahnen. Das Netz aber, vor allem die sozialen Medien, sind geschaffen dafür, solche Asymmetrien eruptiv auszugleichen. Man kann das auch als Symptom begreifen: #aufschrei ist der Beweis, dass ein gesellschaftliches Großthema in klassischen Medien nach dem Gefühl sehr vieler Menschen zu selten oder aus der falschen Perspektive behandelt wird. Dass also nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen ist, was nach der Überzeugung vieler dorthin gehört.

Ein kleiner Schritt Richtung Demokratie

1968, als die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof noch journalistisch als APO-Erklärerin arbeitete, erklärte sie in einem Fernsehinterview über die damaligen Demonstrationen:

„Ich halte die Straße keineswegs für ein ganz besonders geeignetes Mittel, seine Meinung bekannt zu machen. Wenn einem aber nichts anderes übrigbleibt, wenn man also nicht im Fernsehen sitzt und wenigstens ein- oder zweimal in der Woche ein oder zwei Stunden lang genau sagen kann, was man zu sagen hat, wenn man nicht über Millionenauflagen […] verfügt, […] dann bin ich da allerdings der Ansicht, dass es da außerordentlich demokratisch ist, wenn es Leute gibt, die […] die einzige Öffentlichkeit, die dann für sie bleibt, nämlich die der Straße, benutzen[…].“

Angesichts der Mordtaten, wegen derer Meinhof später bekannt wurde, erinnert sich heute kaum noch jemand an ihre damaligen Erkenntnisse. Aber mit dem Netz bleibt nicht mehr nur eine einzige Öffentlichkeit, wenn eine kritische Masse nicht medial gespiegelt sieht, was sie zu sagen hätte. Die sozialen Medien sind die digitale Straße, und dort können Hashtags zu Internetdemonstrationen werden. Wie bei ihren nicht-digitalen Vorbildern wird durch die schiere Größe der digitalen Versammlung sichtbar, was den Leuten wichtig ist, aber unterpubliziert erscheint. #aufschrei war nach #zensursula und #ACTA die erste digitale Großdemonstration in Deutschland, die sich nicht selbstreferentiell mit Netzthemen beschäftigte. Damit ist dieses Instrument in der gesellschaftlichen Realität angelangt: der Hashtag als Symbol für Netzdiskurse mit tatsächlicher Wirkung in der Öffentlichkeit. Nur ein kleiner Schritt, klar, aber so ist Demokratie, Politik in Trippelschritten.

tl;dr

Der Hashtag ist die digitale Straßenversammlung, in der Masse ergibt sich eine Internet-Demo. #aufschrei war der deutsche Prototyp.

Link zum Original

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzbestimmungen.