
Armes Deutschland
Was macht Deutschland zu einem reichen Land? Arbeiten wir wirklich härter als die anderen? Nein: Eine wesentliche Ursache des wirtschaftlichen Erfolgs ist unsere exzellente Infrastruktur – bis jetzt. Denn die digitalen Netze hierzulande sind löchrig. Es fehlt an politischem Willen zum Ausbau.
Warum ist Deutschland ein reiches Land? Seit einiger Zeit kursiert eine Umfragegrafik in sozialen Netzwerken, die die scheinbare Antwort darauf mit einem gewissen Wohlfühlnationalismus verbindet: Die Deutschen würden einfach am härtesten arbeiten. Glauben ja nicht nur die Deutschen selbst, sondern eigentlich alle in Europa. Außer den Griechen, die sich selbst für die Speerspitze der Hartarbeit halten. Hoho, die faulen Griechen, so quillt es ebenso selbstge- wie abfällig durch das deutschsprachige Netz.
Enrique Peñalosa, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, sagte 2010 einen dieser Sätze, die die Augen öffnen für das, was klar ist, aber nicht offensichtlich: „Eine [wirtschaftlich] hochentwickelte Stadt ist keine, in der die Armen Auto fahren, sondern eine, in der die Reichen öffentliche Verkehrsmittel benutzen.“ Hinter diesem Satz steht eine Erkenntnis, die mit der Eingangsfrage eng verknüpft ist. Grundlage und zugleich Ausdruck des deutschen Wohlstands ist nicht Geld auf irgendwelchen Konten, sondern die Infrastruktur. Es mag zwischen Philharmoniephail, Bahnhofsblamage und Flughafenfersagen derzeit leicht irrwitzig klingen. Aber leicht verkürzt ist Deutschland ein reiches Land, weil seine höchstfunktionale Infrastruktur die Industrieproduktion überhaupt erst ermöglicht. Die vielfältigen Zusammenhänge lassen sich im Automobilsektor erahnen: Weder die Produktion noch die normale Verwendung eines Autos ist ohne angemessene Infrastruktur möglich. Für einen Feldweg braucht man keine S-Klasse.
Im Netz hat Deutschland keinen Mercedes, VW, BMW, über die Ursachen kann man streiten. Vorne mit dabei aber ist der langjährig falsche Umgang der Politik mit der digitalen Infrastruktur. Geeignete Infrastrukturen entstehen weder allein durch den Markt noch allein durch den Staat, sondern nur durch das strategische Zusammenspiel. Sowie durch die politische Knappware Entschlossenheit.
Deutschland gibt in Europa am wenigsten für Breitbandausbau aus
Um so katastrophaler wirkt deshalb, dass Kurzsichtigkeit Staatsräson ist, was die digitale Infrastruktur betrifft. Anhand von Schlaglichtern auf einige Fakten lässt sich das Ausmaß des langfristigen Schadens begreifen, der in Deutschland angerichtet wird. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin verglich 2010 die jährlichen, öffentlichen Breitbandinvestitionen. Pro Kopf gerechnet lagen diese in den USA bei mehr als 7 Euro, in Finnland bei 4,21 Euro, in Großbritannien bei 3,15 Euro. Deutschland gab einen Euro pro Kopf aus – mit Abstand am wenigsten in Europa.
Ein Jahr zuvor hatte Australien ein staatliches Programm für den Breitbandausbau verkündet – mit einem Budget von 30 Milliarden US-Dollar für zehn Jahre, also etwa den hundertfachen Investitionen pro Kopf und Jahr. Natürlich schwingt bei solchen Zahlen mit, australische Äpfel mit bundesdeutschen Birnen zu vergleichen. Und die Förderung für schnelle Internetanschlüsse ist nicht der einzige Maßstab für die digitale Infrastruktur.
Aber an solchen Details lässt sich die schädliche politische Haltung erkennen, die digitale Infrastruktur bloß als schmucke Dreingabe betrachtet. Im Oktober 2011 gab die schwarz-gelbe Koalition den politischen Plan für einen Universaldienst auf, der zumindest einigermaßen schnelles Internet zur überall verfügbaren Selbstverständlichkeit gemacht hätte. Natürlich hatten Telekommunikationskonzerne wie die Telekom darauf gedrängt – die Verantwortung aber liegt bei der Politik. Ohne eine Mischung aus politischem Druck und starken Investitionsanreizen funktioniert der Aufbau einer digitalen Infrastruktur nicht einmal im Kleinen, wie ein großer deutscher Infrastrukturkonzern beweist: die Bahn.
Innovatives Realitätskonzept der Bahn
Die Raumstation ISS hat seit 2008 W-Lan, in Finnland und in der Schweiz haben öffentliche Omnibusse kostenloses W-Lan, im deutschen ICE dagegen kommt man auf einem Bruchteil der Fahrstrecken für nur 4,16 Euro pro Stunde ins Netz. Zwischen Hamburg und Berlin dagegen funktioniert nicht einmal der Telefonempfang durchgehend. Und die Datenverbindung fühlt sich von der Durchschnittsgeschwindigkeit her an, als würde es vom Frankfurter Netzknoten aus durch das Jahr 1995 bis in den Zug geroutet. „Kein anderes Verkehrsmittel bietet so optimale Bedingungen zur Internetnutzung wie der ICE“, steht trotzdem ohne jedes Zwinker-Smiley auf der Homepage der Bahn, was auf ein hochinnovatives Realitätskonzept schließen lässt. Vor diesem Hintergrund findet der Bahn-Plan, „bis voraussichtlich Ende 2014“ die ICEs im Kernnetz mit Breitbandtechnologie auszurüsten, vermutlich auf dem Berliner Flughafenkalender statt.
Dieses Versagen mag vielleicht nicht politisch gewollt sein. Die Verhinderung dieses Versagens ist es aber auch nicht. Die Regierung eines Landes, dessen Reichtum in und durch die Infrastruktur besteht, findet regelmäßige warme Worte für die große Relevanz der digitalen Infrastruktur – statt dringend notwendiger Großinvestitionen. So verschärfen sich bestehende Probleme. Die Netzneutralität zum Beispiel ist auch deshalb bedroht, weil Netzanbieter den ständigen Ausbau der Datennetze kaum selbst schultern können. Einigermaßen zukunftsfähige Glasfasernetze werden deshalb nicht mehr als selbstverständliche Infrastruktur betrachtet.
„Die Zeiten sind vorbei, in denen wir flächendeckend so ein Netz ausrollen“
Der Deutschland-Chef der Telekom, Niek Jan van Damme, erklärte 2011 im Interview mit der „Wirtschaftswoche“ sogar: „Die Zeiten sind vorbei, in denen wir flächendeckend solch ein Netz bis in jeden Haushalt ausrollen. Wir suchen gezielt nach Städten, wo sich ein Glasfaserausbau für uns lohnt.“ Zur Erinnerung: Außerhalb von größeren Städten geht ohne die Leitungen der Telekom wenig bis gar nichts. Auf den ersten Blick erscheint diese Äußerung von van Damme deshalb wie ein Skandal. Tatsächlich ist sie für ein börsennotiertes Unternehmen absolut vernünftig – und genau dieser Umstand zeigt das Versagen der Politik.
Damit Deutschland ein reiches Land bleibt, führt kein Weg an massiven Investitionen in die digitale Infrastruktur vorbei. Dafür braucht man neben der Erkenntnis, dass der Markt von allein nichts regelt, vor allem den politischen Willen. Denn dass der Reichtum eines Landes mit „harter Arbeit“ nur begrenzt zusammenhängt, zeigt eine andere Grafik, die hierzulande wesentlich seltener geteilt wird.
Die OECD hat herausgefunden, dass die Griechen in Europa mit Abstand am meisten arbeiten, nämlich im Schnitt 2017 Stunden im Jahr. Die Deutschen dagegen arbeiten mit 1408 Jahresstunden am zweitwenigsten.
tl;dr
Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands hängt an der Infrastruktur – umso fataler ist die politische Geringschätzung der digitalen Infrastruktur.