
Der Kunde nervt
Das Callcenter ist eine der Geißeln des modernen Menschen: Der Kunde spricht dort nicht mit dem Unternehmen, das er erreichen will, sondern mit Experten für Beschwichtigung und Besänftigung. Jetzt aber, im Zeitalter des Netzes, gibt es die Möglichkeit der kollektiven Notwehr.
Ein Teil der Wut auf den Kapitalismus beruht auf dem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Konzernen. Diese politische Ohnmacht, die etwa die Occupy-Bewegung groß gemacht hat, hat ihre Entsprechung im Privaten: zu den ärgerlichsten Erlebnissen gehört die direkte Kommunikation mit großen Unternehmen, deren Kunde man ist. Oder vielmehr der Versuch der direkten Kommunikation.
Sein Name ist kaum Fachleuten bekannt, aber William Durr könnte eine der meistbeschimpften Personen der Technologiegeschichte sein, ein Symbol der Alltagsaggression. Um die Anrufverteilanlage seines Arbeitgebers besser verkaufen zu können, soll er 1973 den Begriff „Call Center“ samt dem dazugehörigen Konzept erfunden haben. In den Vereinigten Staaten der „Mad Men„, in der Businesswelt der frühen sechziger Jahre, tauchte zum ersten Mal die Wendung „Customer Relationship Management“ auf, inzwischen eine der wichtigsten Disziplinen jedes Unternehmens. Bei der Analyse der Kundenbeziehungen begriffen Don-Draper-hafte Strategen, dass sich die meisten direkten Kundenkontakte allein durch Kommunikation abfertigen ließen. Ohne irgendetwas aufwendig zu ändern. Feuerlöschen durch gutes Zureden.
Diese Erkenntnis, verbunden mit Maschinen wie der von Durr verkauften, einem sogenannten ACD (Automatic Call Distributor), ermöglichte überhaupt erst das Callcenter. Das Denkmodell dahinter ist gleichzeitig Erfolgsgeschichte und Zumutung, ein Prinzip des computerisierten Kapitalismus: die weitgehende Trennung der Kundenbeziehung vom Rest des Unternehmens. Also von dort, wo Kundenprobleme tatsächlich gelöst werden könnten. Weil Sprechen im Zweifel billiger ist als Handeln.
Wenn man heute als Kunde das Gefühl hat, dass der direkte Kontakt mit einem Unternehmen so ergiebig und befriedigend ist wie der Biss in einen Wattebausch, hängt das mit genau dieser Trennung zusammen. Die durchschnittliche Service-Hotline zum Beispiel ist besetzt mit einer Person, die fast nichts entscheiden kann, nur wenig mehr weiß – aber dafür umfangreiche Sprachregelungen vorliegen hat. Dieses Prinzip funktioniert, solange man ein gewöhnliches Problem hat. Anderthalb Millimeter außerhalb der Standardvorgänge fängt ein Niemandsland der Kommunikation an. Dort hilft nur noch Glück. Zum Beispiel in Form eines überdurchschnittlich engagierten Mitarbeiters.
Die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmen als Einlullbeziehung
Das Telefon war die erste interaktive Massentechnologie für den Hausgebrauch und hat deshalb die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmen entscheidend geprägt. Das direkte Gespräch kann je nach Anlass recht emotional verlaufen und dauert verhältnismäßig kurz. So kurz, dass etwaige Probleme nur selten in Echtzeit gelöst werden können. Mit einem verärgerten Kunden an der Strippe bedeutete das: Experten mussten sich universelle Strategien zur Beschwichtigung und Besänftigung ausdenken. Die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmen als Einlullbeziehung, und zwischendurch Produktinformationen in der Warteschleife, „Probieren Sie auch unser neues Zongo Limone mit W-Lan“.
Diese durch das Telefon entstandene Haltung gegenüber dem Publikum hat sich mit dem Internet kaum verändert: Diejenigen, die tatsächlich individuelle Probleme lösen könnten, Servicetechniker etwa, stehen fast nie für den Dialog zur Verfügung. Sie wären nämlich viel teurer als outgesourcte Callcenter-Studenten. Stattdessen Facebook-Smalltalk mit einer freundlichen Social-Media-Fachkraft im Plaudermodus. Darin liegt das eigentliche Dilemma: Die klassische Kommunikationsstruktur von Unternehmen ist noch immer auf Appeasement und Abschirmung vom Kunden ausgerichtet und nur selten auf Problemlösung. Dabei entstanden diese Hilfsstrukturen Mitte des 20. Jahrhunderts nur aus Mangel an Internet.
Im Jahr 2012 gab es deshalb eine Reihe von Empörungsstürmen in den sozialen Medien, die vor allem Telekommunikationsunternehmen trafen. Im Juli 2012 beschwerte sich eine Facebook-Nutzerin auf der Vodafone-Seite: „Ich rufe ständig beim Kundenservice an und niemand kann mir helfen.“ Der Beitrag wurde über 160.000-mal geteilt und erreichte damit ein geschätztes Publikum von mehr als 10 Millionen Personen. Im Dezember 2012 veröffentlichte Dominik Schwarz seine unterhaltsame „Brieffreundschaft“ mit der Telekom, die Kundenbetreuung kam mit seinem Umzug in die Schweiz nicht zurecht. Schon Ende 2011 wurde die Website wir-sind-einzelfall.de bekannt, die die ständigen Probleme von O2 mit Netzabdeckung und Datenübertragung massenhaft dokumentierte. Der Name trifft den Kern des Problems: Im direkten Kundenkontakt hatte O2 besänftigend von „Einzelfällen“ gesprochen.
Aus dem Einzelfall wird eine Story
Solche Kundenreaktionen vom situativen Wutanfall bis zur geplanten Aktionsseite sind als Notwehr zu begreifen. Obwohl das Internet seit den Neunzigern zum Massenphänomen geworden ist, haben erst die sozialen Medien in den vergangenen Jahren dem Durchschnittsnutzer ermöglicht, seine digitale Stimme zu erheben. Aus dem Einzelfall wird eine Story, und sie explodiert teilweise sogar irrational, weil sich die Wut der Kunden über viele Jahre angestaut hat.
Man muss die vergangenen vierzig Jahre im Wachkoma verbracht haben, um nicht schon Dutzende Male über die Nichtkommunikation mit Unternehmen geflucht zu haben. Die Wucht der vernetzten Öffentlichkeit – die weit über diese drei Beispiele hinausgehen wird – könnte dazu führen, dass aus der bisherigen Dialogsimulation zwischen Unternehmen und Kunden tatsächlich eine zielführende Veranstaltung wird. Dass die Hotline-Realität in Konzernen einer echten Betreuung weicht. Dass man nicht mehr verzweifelt hysterisch lachen muss, wenn man sich zum fünfzigsten Mal vom gleichen Newsletter abmelden muss. Sondern, dass auf der anderen Seite eine Person sitzt, die etwas bewirken kann, die Einsicht und Verfügungsgewalt über die kundenrelevanten Bereiche des Unternehmens hat und nicht dem immer gleichen Fünf-Euro-Gutschein zur Beschwichtigung anbietet.
Die Instrumente der digitalen Vernetzung bestehen längst, gewissermaßen die sozialen, digitalen, öffentlich einsehbaren Callcenter-Nachfahren des 21. Jahrhunderts, der direkte, funktionierende Draht in die Schaltzentralen samt brauchbarer Dokumentation aller verfügbaren Vorgänge und Informationen. Nur setzt dieser Ansatz voraus, dass sich Haltung und Kommunikationskultur in den Unternehmen ändern und den technischen Möglichkeiten annähern, was Transparenz und Nachvollziehbarkeit angeht. Damit der Kunde nicht mehr als einzulullender Störfaktor behandelt wird. Die Umsetzung könnte allerdings sogar mit den Segnungen des Internet schwierig werden. Denn trotz aller berechtigten Kritik am arroganten Gebaren vieler Unternehmen reichen zwanzig Minuten in einem durchschnittlichen Callcenter aus, um festzustellen: Der Kunde an sich nervt wie Sau.
tl;dr
Direkter Kontakt zwischen Firmen und Kunden wird oberflächig modernisiert – Strukturen und Einstellungen stammen noch aus der Telefon-Ära.