Menu

Netzhass ist gratis

Digitaler Hass ist anders. Der Hassende muss dem Gehassten nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen. Das führt zu entfesselten Kommentaren und Tränen vor dem Monitor. Wir brauchen eine digitale Herzensbildung.

In einem der meistzitierten Texte der letzten Monate stand fast beiläufig in einem unbeleuchteten Übergang ein nirgends zitierter Halbsatz herum. Nicht einmal ein Twitterer fand sich, der den Halbsatz adoptieren wollte. Dabei lässt sich aus der Flut der Zitate-Tweets an einem beliebigen Sonntag sogar das komplette Drehbuch eines „Tatorts“ herauslesen. Es handelte es sich um ein Sätzlein, das entscheidend für Erfolg und Effekt des Internets in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft sein wird. Es geht um Frank Schirrmachers Frage, „was Hass in einer digitalen Gesellschaft ist“.

Das Netz ist voll mit witzigen, witzigen und „witzigen“ Videos, die bestehen aus einer Eins-zu-eins-Übertragung digitaler Funktionen in die nichtdigitale Alltagswelt, wenn die Hauswand die Facebook-Wall wäre, wenn es an der Supermarktkasse Google Analytics gäbe. Diese Komik lässt erahnen, was der Halbsatz voraussetzt. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Ding, ein Vorgang, ein Gefühl im Internet das Gleiche ist wie in der nichtdigitalen Welt – selbst wenn dafür die gleiche Bezeichnung verwendet wird. Das gilt besonders für Hass.

Ein Hass-Tweet wiegt tausend freundliche auf

Im 20. Jahrhundert begegnete einem Hass am häufigsten in den Nachrichten; in einer digital vernetzten Gesellschaft quillt Hass aus allen Ritzen der sozialen Medien. Zwar ist Facebook auch voll mit digitalen Liebes- und Freundschaftsbekundungen, in der Menge sicher mehr als gegenläufige Emotionen. Aber so wie ein Liter Öl mehrere Shrillionen Liter Wasser vergiftet, so wiegt für die Einzelperson ein Hass-Tweet tausend freundliche auf.

Hass gab es natürlich schon immer. Aber zu den größten Problemen des Netzes gehört, dass die digitale Version des Hasses ausgerechnet um den Teil reduziert ist, der für den Hassenden anstrengend ist: die Konfrontation von Angesicht zu Angesicht. Ja, das ist ein Problem, und ja, das Internet macht es einfacher, Hass auszukübeln. Wer das leugnet, weil er das Internet zu verehren glaubt, der hat nicht nur das Netz nicht verstanden, sondern die Welt ebenfalls nicht. Außerhalb des Internets hat es einen hohen sozialen Preis, einer Person gegenüberzutreten und ihr Hass zu zeigen. Netzhass ist gratis.

Digitaler Hass ist ein gesellschaftliches Problem galaktischen Ausmaßes

Ich habe das große Glück, den Netzhass seit längerem ausgiebig von innen erforschen zu können. In der „Zeit“ erschien im April dieses Jahres ein Artikel, der zu ergründen versucht, weshalb ich so „gefragt und gehasst“ sei. Ein Anruf bei meiner Mutter bestätigte zum Glück, dass mich die Welt gar nicht so leidenschaftlich hasst, wie in dem Artikel steht. Obwohl ich kein objektiver Beobachter sein dürfte, ist der Artikel meiner Überzeugung nach in einer Annahme falsch: die Gründe für die zugegeben nicht wenigen Antipathien nur bei mir zu suchen. Und nicht auch in der sozialen Dynamik des Netzes selbst.

Einer der ekelerregendsten Hassmonolithen des Jahres 2012 war die Seite Hatemail am Morgen, auf der die ehemalige Piratenfunktionärin Julia Schramm die digitalen Angriffe gegen sich sammelte.

  • „was für ein armseliges Würmchen sie sind“
  • „Stell dein Buch kostenlos zur Verfügung und heuchlerisches, hässliches Biest“
  • „Jetzt hast du mehr Zeit, an deiner verrotteten Muschi zu spielen“
  • „du gehörst mal anständig in die Muschi gefickt“
  • „Verlogene Lochhure“
  • „Was für eine hässliche Fotze du doch bist! Victoria Secret Model?? Lol, wohl eher klomodel^^“
  • „Arbeitslager!!“

Digitaler Hass ist ein gesellschaftliches Problem galaktischen Ausmaßes. Er ist – sorry, „Zeit“ – nicht frisurenabhängig. Und übrigens ebenso wenig piratenabhängig. Es trifft nur zuerst die, die sich im sozialen Netz exponiert haben. Oft sehen sie dann nur noch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, wie das Julia Probst alias @einaugenschmaus jüngst beschrieben hat. Der Quell des digitalen Hasses scheint fest eingewoben in die soziale Vernetzung, und wie jede Form von Hass kann er alles andere vergiften. Was ist digitale Demokratie wert, wenn der Netzhass die Diskussionen zerstört? Was sind Buchbewertungen wert, wenn in den Rezensionen blanker Hass herrscht? Was ist die Kommentarfunktion bei Zeitungsartikeln und Blogbeiträgen wert, wenn darunter eine digitale Pest Hassbeulen schlägt?

Die beschriebene Niedrigschwelligkeit aber kann nicht allein der Grund sein – woher kommt dieser unfassbare Hass? Eine mögliche Antwort ist erschütternd, vor allem für diejenigen, die die große, rührende Wärme des Netzes kennen. Sie lautet: In vielen Menschen schläft ein Hassmonster, und das Internet vermag es zu wecken, Dr. Jekyll und @mrhyde. Hundert Leute auf der Straße, man geht an ihnen vorbei, aber ihre Hassgedanken sind meist verborgen unter einer Art Zivilisationsfirnis. Hundert Leute im Netz, und ein ungünstiges Zusammenspiel kann sich ergeben.

Mehr persönliche Informationen im Digitalen bedeuten mehr potentielle Angriffspunkte, kleinere Hemmschwellen im Digitalen bedeuten leichtfertigere Angriffe, und beides resultiert in digitalen Hasswellen, die erschüttern: den Glauben in eine funktionierende digitale Gesellschaft, die Bereitschaft der Menschen, sich im Netz zu öffnen, und die einzelne Person in ihren Grundfesten.

Wir hatten uns doch einen digitalen Rosengarten versprochen

Das Wort Patentrezept ist ohnehin eine Anmaßung, hinter der sich oft die simplifizierende Dummheit verbirgt. Aber selten ist die Lösung weiter davon entfernt als beim Problem des digitalen Hasses. Abschaffung der Anonymität? Anfang 2010 forderte eine Facebook-Seite die Wiedereröffnung des KZ Mauthausen, sie gewann über 11.000 Fans, die meisten mit echtem Namen und Foto voll identifizierbar – bis sie gelöscht wurde. Wenn die digitale Welt also voll von solchen Leuten ist, dürfte die Klarnamenspflicht nicht besonders viel nützen. Zero Tolerance, alles anzeigen? Leute wie Julia Schramm, Stephan Urbach oder beliebige, über Feminismus bloggende Personen müssten sich zur Untermiete in Polizeirevieren einquartieren.

Facebook-Seite zur Wiedereröffnung des KZ Mauthausen: Fans mit echten Namen

Man muss wohl lernen, im Netz mehr auszuhalten, eine digitale Hasshornhaut zu entwickeln. Also die Grenze zwischen dem, was noch im Rahmen einer Beleidigungskultur stattfindet und was schon als digitaler Hass bezeichnet werden muss, deutlich nach Norden zu verschieben. Aber eben nicht unendlich. Und dann bleiben nur noch mühsame, rückschlagreiche, langfristige Maßnahmen, weil die verdammte Zivilisation eine verdammt mühsame, rückschlagreiche und langfristige Veranstaltung ist.

Ein Schulfach Interneterziehung wäre ein Anfang, dazu ein Aufstand der Nichthassenden, ebenso wie alle anderen Maßnahmen, die zu einer digitalen Herzensbildung beitragen, einer sozialen, nicht bloß technischen Online-Kompetenz also. Und dabei handelt es sich nicht um ein Ziel, das die Gesellschaft irgendwann erreichen kann, sondern um einen anstrengenden Prozess, an dem auch noch an jedem einzelnen Tag jeder Einzelne arbeiten muss. Schöne Scheiße eigentlich, wir hatten uns doch einen digitalen Rosengarten versprochen.

In einem Interview zu Shitstorms kam einmal die Frage, ob ich schon mal vor dem Monitor geweint hätte. Natürlich verneinte ich, natürlich war es gelogen. Ganz am Anfang, als meine digitale Hasshornhaut noch wenig ausgeprägt war, wollte ich die Tränen nicht zurückhalten. Wer noch nie in einem digitalen Hasssturm war, ahnt kaum, wie es sich anfühlt, wie tief es geht, wenn man dem ungeschützt ausgesetzt ist. Damals dachte ich, die Tränen seien Tränen der Verletztheit und des Selbstmitleids gewesen. Heute weiß ich: Ich habe nicht nur um mich geweint, sondern auch um das Internet, die Hassenden und wie sie jeden, jeden, jeden Tag zeigen, was Hass in der digitalen Gesellschaft ist.

tl;dr

Das größte Problem auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft ist nicht technischer, sondern sozialer Natur: der digitale Hass.

Link zum Original

This Post Has One Comment

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzbestimmungen.