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Hä? Hä? Hä?

Mächtige Institutionen in Deutschland verweigern sich konsequent der Internet-Zukunft. Für den normalen Bürger ist das nicht verständlich, immer häufiger fragt man sich „Hä?“. Die Grundlagen für unsere neue Lebenswelt schaffen derzeit andere.

Mitte Oktober 2012 trafen sich 17 reifere Männer sowie keine einzige Frau in Berlin, setzten sich im Halbkreis um einen Beamer und machten sich Sorgen. Die fatale Frauenlosigkeit war vermutlich ebenso typisch wie das Ergebnis der Runde, es handelte sich um hauptberufliche Sorgenmacher, nämlich den von der Gewerkschaft Ver.di organisierten Gesprächskreis von Betriebsräten deutscher IT-Unternehmen.

Man veröffentlichte ein Positionspapier zum Thema Crowdsourcing und Cloudworking, von allen 17 Männern unterschrieben und von keiner einzigen Frau. Die Chancen werden in einem Satz abgehandelt, der dazu noch auf „infrastrukturell weniger erschlossene Länder Afrikas, Asiens oder Amerikas“ bezogen ist. Die restlichen 6000 Zeichen des Positionspapiers lassen sich in den Ver.di-Worten zusammenfassen: „Die Risiken sind gigantisch.“ Und zwar für Arbeitnehmer, Sozialversicherungssysteme und den steuerbedürftigen Staat ganz allgemein.

Soweit, so unspektakulär und erwartbar. Wie nebenbei wird freiberufliche Arbeit offenbar als ein grundsätzliches Übel betrachtet, aber das ist nicht das Entscheidende an diesem Papier. Vielmehr handelt es sich um ein Symbol, das weit über die Gewerkschaftswelt hinausgeht. Denn in der Tat verändert das Internet mit der Cloud die Arbeitswelt sehr umfassend und natürlich birgt diese Entwicklung erhebliche Risiken.

Antworten auf Fragen, die keiner stellt

Das Problem des gewerkschaftlichen Positionspapiers besteht darin, dass der Wandel offensichtlich nicht gestaltet werden soll, sondern abgelehnt wird. Fast muss man Ver.di dankbar sein, dass die Ablehnung so erfrischend offen zelebriert und nicht verklausuliert oder zwischenzeilig eingewoben wird. Denn diese Haltung ist nicht das Privileg einer Gewerkschaft, wie man vermuten könnte. Leider scheint es die typische Haltung vieler Institutionen zu sein, Gewerkschaften, Parteien, Verbände, öffentlich-rechtliche Körperschaften – und auch dort, wo Institution, dem Alltagssprachgebrauch folgend, kein klar abgegrenztes Gebilde bezeichnet.

Der ehemalige Bürgermeister von Hamburg, Ole von Beust, beschrieb in einem knappen Satz über die großen Volksparteien das grundsätzliche Dilemma: „Sie geben Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt.“ Immer mehr Institutionen organisieren nach wie vor das Leben des 20. Jahrhunderts, weil sie geschaffen wurden, um die damaligen Probleme zu lösen. Eine Institutionenkrise zieht herauf, mitverursacht durch die digitale Vernetzung. Natürlich ist nur ein Teil der Institutionenkrise direkt darauf zurückzuführen. Der technische Fortschritt allgemein, die Globalisierung, die Alterung der Gesellschaft wirken ähnlich tiefgreifend. Allerdings wirkt das Internet wie ein Turbo für viele dieser Veränderungen. Institutionen sind Großstrukturen, die – ob offiziell oder nur per Konsens – die Gesellschaft organisieren. Oder viel mehr: organisieren sollen.

Denn Institutionen, so zwingend notwendig sie für eine Zivilgesellschaft sind, sind nichts anderes als verfestigte soziale Gewohnheiten, kristallisierte Vereinbarungen darüber, wie die Gesellschaft funktionieren soll. Diese Verfestigung gibt Halt, und das ist natürlich superphantastisch – bis sich die Rahmenbedingungen so stark ändern, dass statt Halt Veränderung gefragt ist. Haltgebende Institutionen sind gewissermaßen per Definition dem Wandel gegenüber unaufgeschlossen.

Und das ist ein grundsätzliches Problem in einer Zeit, in der sich die Welt durch die digitale Vernetzung schneller und intensiver verändert als je zuvor, wenn man vom Urknall einmal absieht. Die Organisationspsychologie kennt einen wunderschönen Begriff für das, was passiert, wenn Institutionen sich jeder Veränderung entgegenstellen und sich damit immer weiter von der Lebenswirklichkeit entfernen: Sie erzeugen dann Rationalitätsmythen.

Ein solcher Rationalitätsmythos ist immer dann vorhanden, wenn der normale Bürger die Aktionen einer Institution betrachtet und nicht anders kann als zu fragen: „Hä?“

  • Wenn institutionelle Regelungen existieren, die dem Alltagsempfinden nach widersinnige bis aberwitzige Effekte haben. Wenn der Laternenumzug eines Kindergartens Gema-pflichtig ist: Hä?
  • Wenn das erfolgreichste YouTube-Video der Welt, „Gangnam Style“ des koreanischen Rappers Psy, im Original überall zu sehen ist außer in Deutschland: Hä?
  • Wenn das Einstellen eines selbstgeschossenen Fotos des Eiffelturms bei Nacht eine abmahnfähige Urheberrechtsverletzung darstellt: Hä?
  • Wenn mit der sogenannten Vorratsdatenspeicherung der elektronische Datenverkehr sämtlicher Bürger überwacht werden, weil sie ja irgendwann ein Verbrechen begehen könnten: Hä?
  • Wenn die schon teuer bezahlten Inhalte öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten depubliziert werden müssen und nicht mehr zugänglich sind: Hä?

Für alle diese Häs gibt es Begründungen, Regeln, Gesetze, nach denen Institutionen pflegen zu handeln – aber auf welche Welt beziehen sie sich? Auf die von heute oder auf die Telefax-Wirklichkeit von 1987?

Institutionen in der digitalen Krise

Realitätsmythen, also eine faktische Realitätsferne, können auch entstehen, indem sich die Realität weiterentwickelt, Institutionen aber stehenbleiben, was sie in der Regel mit dem Beharrungsvermögen eines Mittelgebirges schaffen. Deshalb lässt sich die Institutionenkrise in der digitalen Sphäre, im Großraum Internet, besser beobachten als anderswo: weil sich hier die Gesellschaft schneller und nachhaltiger ändert. Die Piratenpartei zum Beispiel existiert in erster Linie als Symbol für die Institutionenkrise der herkömmlichen Parteien.

Veränderungen sind energieaufwendig und risikoreich, und das ist besonders dann doof, wenn man schon einiges erreicht und in die Form einer geschmeidig dahinschnurrenden Institution gebracht hat. Der heimliche Gedanke „Och, bis zur Rente geht es doch auch noch ganz ohne anstrengende Veränderung“ ist höchst menschlich, nachvollziehbar, und wenn man in den Genuss einer anständigen Rente kommen sollte, persönlich betrachtet auch rational. Nur leider herrscht mit der Entwicklung hin zu einer digitalen Gesellschaft gerade für Institutionen die allerungünstigste Zeit, um sich Veränderungen zu widersetzen. Denn jetzt werden ihre Grundlagen geschaffen, und wer brüsk ablehnt, statt mitzugestalten, wird keinen Einfluss darauf haben, wie wir in Zukunft leben.

Von den 17 Gewerkschaftern bemerkte niemand die beißende, brüllende, alles verlächerlichende Ironie der Tatsache, dass ein Warnpapier über die Gefahren des Crowdsourcings mit einem Wikipedia-Zitat eröffnet wurde.

tl;dr

Der schnelle gesellschaftliche Wandel hat eine Institutionenkrise verursacht, die in der digitalen Welt am deutlichsten zu beobachten ist.

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