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Schneller als die Fakten erlauben

Meinungsschaum statt Fakten: Im US-Wahlkampf erlebten wir eine wahrheitsunabhängige Politik. Schuld tragen auch die hektischen sozialen Medien. Dabei ist Geschwindigkeit nicht alles.

Vielleicht muss man in drei recht unterschiedlichen Berufswelten erfolgreich gewesen sein, um in einem einzigen Satz eine so präzise Gesellschaftskritik zu verpacken wie der ehemalige Soziologieprofessor, Diplomat und US-Senator Daniel Patrick Moynihan: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.“

Das politische Geschehen und vor allem der Wahlkampf in den Vereinigten Staaten wird mit einem neuen, wunderschönen und ekelerregenden Begriff bezeichnet: „Post-Truth Politics„, frei übersetzt: wahrheitsunabhängige Politik. Das bedeutet, bewusst Argumente zu konstruieren, die unabhängig von den Fakten die gewünschte Wirkung in der Öffentlichkeit erzielen sollen. Wahrheit ist nur noch eine Option unter vielen. Anfang November 2012 erschien im Schweizer „Tagesanzeiger“ eine Betrachtung über die Lüge in der Politik, in der ein Zitat des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman das Dilemma auf den Punkt bringt: Wenn eine der beiden Parteien plötzlich behaupten würde, dass die Erde eine Scheibe sei, würden die Schlagzeilen lauten: „Gestalt der Erde ist umstritten.“

Das Problem entsteht, wenn klassische Medien zwei gegensätzliche Positionen einander gegenüberstellen, selbst wenn von diesen auf überprüfbar falschen Fakten beruht. Dies geschieht vor allem in den USA oft aus Angst, anderenfalls als parteiisch zu gelten. Wahrheitsunabhängige Politik basiert natürlich auf der Amputation des Morallappens im Hirn, aber Leute mit solchen Qualitäten gibt es umfassenden Recherchen zufolge schon länger.

Woher stammt also diese neue Entwicklung?

Eine monokausale Antwort dürfte speziell im Fall der USA zu kurz greifen. Die politische Agenda von Propaganda-Medien wie Rupert Murdochs unerträglichen Fox News (im Netzspott Faux News genannt) trägt neben dem Verlust einer politischen Moral erheblich dazu bei. Aber es gibt einen technosozialen Nährboden für das Post-Truth-Phänomen der redaktionellen Medien: die sozialen Medien und ihre beschleunigende Wirkung.

Das Politikmagazin „Politico“ beschrieb anhand der Berichterstattung über eine Nebenbemerkung von Mitt Romney den „21-Minuten-Nachrichtenzyklus„. Bei einer Wahlkampfveranstaltung durch seinen Geburtsstaat Michigan am 24. August ließ Romney um 12:23 Uhr einen Witz fallen, er sei nie nach seiner Geburtsurkunde gefragt worden. Eine Anspielung auf die ultrakonservative Verschwörungstheorie der sogenannten Birther, Barack Obama sei nicht in Hawaii, sondern in Kenia geboren worden und dürfe daher nicht US-Präsident werden.

60 Sekunden später twitterte ein Reporter der „Washington Post“ das Zitat. Um 12:27 Uhr griff „Politico“ selbst die Bemerkung auf, zeitgleich fragte die „Washington Post“, ob Romney sich tatsächlich zu einem „Birther“-Scherz habe hinreißen lassen. Um 12:28 Uhr war das erste Video von Romneys Passage online, um 12:41 Uhr veröffentlichte Romneys Presseabteilung eine Richtigstellung: Der Kandidat sei davon überzeugt, dass Obama in den USA geboren sei, die Bemerkung hätte sich auf seinen Geburtsort Michigan bezogen. Um 12:44 Uhr schoss Barack Obamas Pressestelle zurück: Romney reihe sich damit in die Riege der Verschwörungstheoretiker ein. In einundzwanzig Minuten spielte sich damit ab, was wenige Jahre zuvor noch Stunden und Tage gedauert hätte.

Sebastian Dörfler analysierte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ diese Wirkung der sozialen Medien auf die Berichterstattung der redaktionellen Medien. Er beschrieb die Verbreitungsmechanik von Social Media – Hauptsache Breaking News, weil diese weiterzitiert werden – und kam zu dem Schluss: „Sozial sein ist nicht alles.“ Natürlich nicht. Aber die klassischen Medien stellen kaum ein Gegengewicht mehr dar. Im Gegenteil.

Soziale Medien sind Meinungsmedien

Die lange beschworene und oft ausgesprochen positiv eingeschätzte Wechselwirkung zwischen sozialen und redaktionellen Medien zeigt im US-Wahlkampf ihre böse Seite. Was bei Banken bedrohlich „too big to fail“ heißt, lautet im Medienalltag „too fast to check“. An dieser Stelle kreuzen sich die Wege der Netz-Beschleunigung und der wahrheitsunabhängigen Politik aufs Ungünstigste. Denn die Geschwindigkeit der sozialen Medien, allen voran Twitter, macht eine zeitnahe Berichterstattung nach den klassischen Prinzipien des Journalismus fast unmöglich.

Der einzige Ausweg scheint zu sein, nicht mehr über Fakten zu berichten, die überprüft werden müssen, sondern über Meinungen. Fakten brauchen einen Kontext, eine Herleitung, eine Begründung oder einen Beweis. Die Meinung ist sich selbst genug. Die Äußerung „Es ist viel zu kalt!“ kommt gänzlich ohne Temperaturmessung aus und kann bei 25 Grad minus ebenso abgesondert werden wie bei 32 Grad plus.

Die sozialen Medien aber bestehen – Blogs zum Teil ausgenommen – aus purer Meinung. Soziale Medien sind Meinungsmedien, in denen Anschein und Augenblick die bestimmenden Kriterien sind. Das ist für sich genommen nicht schlimm, aber im Verbund mit redaktionellen Medien ergibt sich ein schädliches Amalgam aus offiziös anmutender, faktenorientiert erscheinender Berichterstattung und Social-Media-Meinung. Das Weltgeschehen passiert einfach nicht schnell genug, um den ständigen Nachrichtenhunger der Medien zu stillen, die entstehende Fakten-Lücke wird mit Meinungsschaum gefüllt.

Das ist der Kern der wahrheitsunabhängigen Politik: das mediale Verschwimmen von Meinung und Tatsachen und ihre gleichberechtigte Behandlung. Es handelt sich um die Nebenbei-Abschaffung der Aufklärung durch das fatale Denkmodell: „Die Wahrheit ist auch nur eine Meinung“ ohne jeden philosophischen Hintergedanken – zugunsten der Geschwindigkeit, der Aufmerksamkeit und damit des wirtschaftlichen Erfolgs. Daniel Patrick Moynihan starb 2003, sein brillanter Aphorismus über Meinung und Fakten entstand im 20. Jahrhundert. Er konnte kaum damit rechnen, dass seine Erkenntnis in einer politischen Ära der Postwahrheit zwischen Medien und Internet aufgerieben würde.

 

tl;dr

Die „wahrheitsunabhängige Politik“ des US-Wahlkampfs wird begünstigt durch das Versagen klassischer und die Beschleunigung sozialer Medien.

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