
Jetzt gibt’s Geld
Die sozialen Medien werden erwachsen, denn inzwischen sind Internetnutzer nicht nur zum Klicken bereit – sondern manchmal auch zum Zahlen. Ein Stromberg-Film ist bereits mit Crowdfunding finanziert worden, ein neues Computerspiel auch. Aber Deutschland hinkt wieder mal hinterher.
Im Jahr 1473 hatte man in Thusis, Masein und Cazis die Nase voll von den Gängelungen des Churer Bischofs. Dieser kontrollierte den Septimerpass, einen der wichtigsten Handelswege über die Alpen. Man erinnerte sich zwar an eine uralte Alternativroute der römischen Legionen. Allerdings handelte es sich um eine so schlechte Straße, dass man sie in erfrischender Bergehrlichkeit auch gleich „Schlechte Straße“ nannte: Via Mala. Also vereinbarten die Bürger den Ausbau der Via Mala ab Thusis durch das hinterrheinische Tal Schams zur einer Art freien Straße mit Hilfe des Viamalabriefs: „Das wier die Fyamala und den weg enzwuschend Tusis und Schams haben lassen howen und machen uff unsern Costung“.
Die Schweizer „kouflüten“ sorgten damit für die erste europäische Überlieferung eines Prinzips, das heute das Internet erobert: Crowdfunding, die Finanzierung von Projekten durch diejenigen, die sich sonst gegenseitig auf die neuesten Katzenvideos hinweisen. Crowdfunding ist nichts anderes als der nächste Schritt von „Social Media“, die Metamorphose des Like-Buttons in Geld. Bisher konnte man von Likes und Liebe nicht leben, aber mit dem langsamen Aufstieg des Crowdfundings zeigt sich, ob der Fan zurecht Fan heißt oder doch nur Teil einer ipadverlosungserregten Klickhorde war.
100.000 Anti-Acta-Demonstranten müssen als meilensteinig gelten
Dass die sozialen Medien für demokratische Diskussionen und politischen Protest taugen, ist schon länger kaum umstritten. Aber in den meisten westlichen Ländern ist Meinung eine kostengünstige Sache: sie erfordert nichts als eine Tastatur, rudimentäre Rechtschreibkenntnisse und den Willen, sich der Welt aus dem weich gepolsterten Stuhl heraus mitzuteilen. Mit Crowdfunding aber werden die sozialen Medien erwachsen, denn es geht um Geld – das Gut also, das alle, die nicht systemrelevant sind, sich sorgfältig einteilen müssen. Der Unterschied zwischen einem Like und einem Euro ist dabei ähnlich einschneidend wie der zwischen einem Blogkommentar und der persönlichen Teilnahme an einer Demonstration. Nicht zufällig sind in den letzten zwölf Monaten in beiden Bereichen – Politik und Finanzierung über die sozialen Medien – in Deutschland neue Stadien erreicht worden.
Der Parlamentseinzug der Piraten und die 100.000 Anti-Acta-Demonstranten im Frost müssen als ebenso meilensteinig angesehen werden wie die Million Euro, die die Produktionsfirma Brainpool für einen Stromberg-Kinofilm einsammeln konnte. Stromberg stellt den Durchbruch für das Crowdfunding im deutschsprachigen Internet dar. Dieser Durchbruch ist wohlverdient, auch wenn es natürlich einfacher ist, die ausnahmslos minderbemittelten Strombergfans zu überzeugen als die durchgehend überirdisch intelligente Netzgemeinde zur Acta-Demonstration auf die Straße zu twittern.
Dass dieser deutsche Durchbruch erst 2011 begann, ist symptomatisch: Man muss nicht mehr dazusagen, dass Deutschland bei der Entwicklung des Internets fast allen anderen Industrieländern ärgerlich hinterhertaumelt. Das lässt sich auch daran erkennen, dass hierzulande führende Netzexpertise schon mit geschicktem Frisurenmarketing erreicht werden kann.
Sogar noch schlimmer sieht es noch mit dem Crowdfunding aus. Während 2011 die führende Plattform kickstarter.com in 27.086 Projekten Crowdfunding über fast einhundert Millionen Dollar organisierte und davon auch noch fast jedes zweite Projekt erfolgreich finanziert wurde, sind in den vergangenen achtzehn Monaten die ersten deutschen Plattformen gerade erst an den Start gegangen. Die größte darunter, startnext.de, leidet wie die kleineren Wettbewerber pling.de, inkubato.de, nordstarter.org oder visionbakery.de an der deutschen Start-Up-Krankheit: Junge Internetfirmen in Deutschland scheinen entweder grauenvoll unsympathisch oder alternativ von der Relevanz des Marketings nicht überzeugt zu sein. Das geht ungünstigerweise einher mit einer sehr geringen Verankerung in den sozialen Medien, die doch eigentlich das genuine Aktionsfeld solcher Unternehmen wären. Aber so muss Deutschland eben damit zurechtkommen, dass das vierhundert Jahre alte ZDF (Schätzwert) mehr Follower auf Twitter hat als sämtliche deutschen Start-Ups zusammengenommen (Schätzwert).
Wenn in Deutschland etwas nicht reguliert ist, existiert es nicht
Die fehlende Verankerung der Crowdfunding-Plattformen in den sozialen Medien ist nur ein weiterer Baustein des grundlegenden deutschen Unverständnisses des Internets. Dieses Unverständnis hat auch eine politische Komponente. In den USA soll derzeit ein Verbraucherschutzgesetz geändert werden, das im Nebeneffekt die Finanzierung von Start-Ups per Crowdfunding erschwert. Das perfekte Symbol für die geringe hiesige Relevanz neuer Netzphänomene dagegen ist, dass Crowdfunding hier gar nicht speziell reguliert ist. Wenn in Deutschland etwas weder reguliert ist noch die Regulierung je lautstark gefordert wurde – dann existiert es nicht. Jedenfalls nicht auf dem Radar maßgeblicher politischer Figuren. Das ist ärgerlich, weil Crowdfunding mit ein wenig Euphorie betrachtet als Netzrevolution der Kulturfinanzierung gelten kann.
Während in Deutschland die Spätfolgen von Steuererleichterungen für Filmfonds zu bestaunen waren, sind Film und Video auf kickstarter.com der wichtigste Motor geworden: 50 der 140 Millionen bisher dort eingeforderten Dollar stammen aus dieser Kategorie. Immer wieder werden auch Bücher und Comics durch die Crowd gefundet. Und Anfang März 2012 sammelten die Macher des in den neunziger Jahren für einsame Pubertierende relevanten Computerspiels „Monkey Island“ mehr als drei Millionen Dollar für ein neues Adventure ein. Zudem ist bereits bewiesen, dass man auch unabhängige Filme mit Hilfe der Internetcrowd finanzieren kann – zumindest, wenn sie von Nazis auf der Rückseite des Mondes handeln. Der große Vorteil des Crowdfunding ist nämlich, dass es gleichzeitig eine Art Marktforschung in Echtzeit darstellt und den für das Gelingen entscheidendsten Teil, die Vermarktung also, an den Anfang stellt.
Allerdings ist noch völlig unklar, ob sich Crowdfunding dazu eignet, wegbrechende Einnahmen im Kulturbereich aufzufangen – oder ob in den nächsten Jahren bloß 37 Strombergfilme von einer eh schon marktführenden Firma ins Kino gefundet werden. Die Universallösung für alle monetären Kulturprobleme und allgemeinen Finanzierungen wird Crowdfunding sicher nicht. Aber schon die teilweise Demokratisierung der Investitionslandschaft würde viel verändern in einer Zeit, wo „Investment“ ein Schimpfwort geworden ist. Denn eigentlich ist die Investition eine wunderbare Sache. Besonders, wenn das Ergebnis der Allgemeinheit dient, oder wie man 1473 sagte: „… damit ein Jeder fromm mann, frömde und heimsche person, kouflüt oder an der mit lerem libe und guot dester bas sicher und frye wandren hin In und har…“.
tl;dr
Crowdfunding bedeutet, dass Social Media erwachsen wird.