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Die Verschmelzung der Welten

Wir stehen am Beginn einer Epoche, in der digitale und analoge Welt immer stärker ineinander übergehen: Die Welt wird zu ihrem eigenen Interface, digital gespeichertes Wissen wird Teil der Realität. Gefährlich wird es, wenn Einzelne wie Google die Macht darüber haben.

Wenn es eine positive Seite des Angebertums gibt, findet man sie jedes Jahr Ende Februar in Long Beach in Kalifornien. Dort werden auf der TED-Konferenz die erstaunlichsten Ideen und Konzepte aus Technologie, Entertainment und Design präsentiert. Das Publikum besteht aus tonangebenden Leuten der technologischen Welt, ergänzt durch diejenigen, die sich ebenfalls für tonangebend halten. Entsprechend gehört Beeindruckbarkeit nicht zur Stärke der TED-Besucher. Und doch ließen Pattie Maes und Pranav Mistry vom MIT Media Lab den Saal im Februar 2009 stehend jubeln – denn sie hatten den Zuschauern einen Blick auf die Zukunft der digitalen Sphäre gewährt.

Das dort vorgestellte Projekt trägt den Namen Sixth Sense und macht konzeptionell sogar den Nachteil wett, so zu heißen wie ein Film von M. Night Shyamalan.

Es besteht aus einem um den Hals gehängten Mini-Computer mit Netzzugang samt Kamera und Projektor. Die Kamera erkennt Fingergesten, der Projektor wirft Bilder auf jede Oberfläche, vor der man steht.

Es ergibt sich ein System, das nahtlos die digitale Welt mit der Kohlenstoffwelt verbindet. Es beginnt damit, Fotos zu schießen, indem man einfach die Finger zu einem Rechteck formt. Es geht weiter damit, die Tastatur eines Telefons auf die Hand zu projizieren: Die Kamera erkennt die mit der anderen Hand getippten Tasten und der Computer startet einen Anruf. Mistry nimmt ein Buch in die Hand, die Kamera identifiziert das Cover, der Projektor bildet die Amazon-Bewertung und die Kommentare darauf ab. Produkte in Supermarktregalen werden ebenso um das digital verfügbare Wissen erweitert wie, Überraschung: herkömmliche Zeitungen. Die Kamera erkennt einen gedruckten Code, der Beamer spielt auf dem Papier als Leinwand den dazugehörenden Film-Clip ab.

Der Mensch bekommt im Internet der Zukunft einen digitalen Schatten

Wenn bisher vom „Internet der Dinge“ gesprochen wurde – eine der vielen Netzvisionen, bei der jeder Toaster via Internet ansteuerbar sein wird – dann gingen erstaunlich viele informierte Leute von der Wald-und-Wiesen-Zukunft aus, per iPhone-App aus dem Büro den Geschirrspüler einzuschalten. Diese Hilfsvision für Männermagazine verhält sich zur kommenden Wirklichkeit wie ein Diätsekt-Stehempfang Schweizer U-Boot-Veteranen zu einer Oscar-Party von Charlie Sheen.

Die Welt wird zu ihrem eigenen Interface. Jedes Ding bekommt eine in Echtzeit abrufbare, digital vernetzte Dimension, die alle im Netz verfügbaren, miteinander verknüpften Daten enthält. Nichts ist mehr offline, alles hat sein digitales Abbild und seine Ergänzung im Internet. Die noch recht diffusen Schlagworte dieser Entwicklung lauten Outernet und Augmented Reality.

Aber nicht nur die Dinge bekommen eine Dimension der Vernetzung, sondern auch und vor allem die Personen. In Mistrys Video ist das mit gutem Grund – der Angst der heutigen Gesellschaft – nur angedeutet: Er tritt einem Studenten gegenüber, der Computer erkennt die Person, und vom Beruf (Student) bis zur häufig verwendeten Kamera (Canon EOS 650) werden dem jungen Mann per Beamer alle Daten auf den Leib geschrieben.

Der Mensch selbst bekommt im Internet der Zukunft einen digitalen Schatten, ob er möchte oder nicht. Ein Vorläufer dieser Entwicklung lässt sich seit gut einem Jahr im Netz beobachten: Nach dem Musikfestival im britischen Glastonbury stellte 2010 ein Telekommunikationsunternehmen ein hochaufgelöstes Foto des Publikums ins Netz.

Jedes einzelne Gesicht war zu erkennen und konnte via Facebook einer Person zugeordnet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob das durch die maschinelle Gesichtserkennung passiert oder durch die maschinell unterstützte soziale Gesichtserkennung durch die digitalen Kontakte – das Ergebnis ist die Verschmelzung der Kohlenstoffwelt mit der digital vernetzten Schicht darüber.

Verschmelzung von digitaler Vernetzung und dinglicher Welt

Die digitale Gesellschaft befindet sich am Anfang einer Epoche, an deren Ende man Mühe haben wird, die digitale Welt von der analogen zu unterscheiden. Mehr noch: Es könnte sogar vielen Leuten kaum begreiflich zu machen sein, weshalb man diese Unterscheidung überhaupt treffen sollte. Es ist eine Verschmelzung des Internet aus Pixeln mit der Welt aus Molekülen im Gang, deren Intensität aus schlechtgelaunter Perspektive die Schreckensvision der „Matrix“-Filme erreichen könnte. Die positive – vielleicht euphemistische – Beschreibung desselben Prozesses ist die Erfüllung dessen, was Marshall McLuhan „The Extensions of Man“ genannt hat, also die „technologische Simulation des Bewusstseins, wenn der kreative Prozess des Wissens kollektiv und unternehmerisch ausgedehnt wird auf die ganze Gesellschaft“. Wer denkt bei diesem Originalzitat aus „Understanding Media“ von 1964 nicht sofort an die Wissensmaschine Google? Mit der Verschmelzung von digitaler Vernetzung und dinglicher Welt wird buchstäblich alles zu einer Frage der Verfügbarkeit, und die wiederum besteht aus Wissen, Zugang und Verknüpfung.

Wenn die Welt selbst das Interface wird, lautet die wichtigste Frage, was man über dieses Interface ansteuern kann, welches Wissen digital gespeichert und abrufbar ist. Dies ist Gegenstand einer der spannendsten Diskussionen der letzten Zeit im deutschsprachigen Netz.

In einem kurzen Beitrag auf Google+ reflektierte der Internetintellektuelle Christoph Kappes einen „FAZ“-Artikel von Frank Schirrmacher über das digitale Gedächtnis und die Notwendigkeit einer europäischen Suchmaschine. Es ergab sich ein fruchtbarer Diskurs, der schließlich in einen Blog-Beitrag des Bielefelder Soziologen Stefan Schulz samt Kommentaren auf dem schmerzhaft luzide geführten Blog sozialtheoristen.de mündete.

Dessen Titel erfasst die Diskussion weitgehend: „Was weiß Google schon?“

Heute mag Schulz‘ flapsige Antwort darauf – „nichts“ – noch vertretbar sein. Die Suchmaschine, Verwalterin des Wissens wie auch des Zugangs dazu, spuckt das aus, was man anhand der fragenden Eingabe selbst vorherbestimmt hat – gefiltert durch die algorithmische Brille kalifornischer Nerdmillionäre.

Die umfassende Zugänglichkeit aller Informationen bedroht ganze Branchen

Mit der Verschmelzung der Welten aber wird die Abfrage des digitalen Wissens nicht mehr nur durch die bloße Eingabe bestimmt, sondern viel intensiver durch den Kontext. Das digital gespeicherte Wissen wird, siehe Sixth Sense, zu einem Teil der realen Welt – und Google weiß durch die ungeheure Macht des Kontextes nicht mehr nichts, sondern alles.

Je selbstverständlicher der digitale Layer, die vernetzte Schicht über der Welt, in den Alltag integriert wird, um so weniger unterscheidbar werden schließlich digital vernetzte und analog vorhandene Informationen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist die iPhone-App WordLens.

Richtet man die Kamera des Mobiltelefons auf ein englischsprachiges Schild, sieht man im Display dasselbe Schild auf Spanisch, übersetzt in Echtzeit. Das Handy und damit die Kraft und das Wissen des gesamten Netzes, derzeit durch den Marketingbegriff Cloud bezeichnet, erweitert die Wahrnehmung der Welt, es fungiert im Wortsinn als „Extension of Man“, als „Erweiterung des Menschen“.

In ebendiesem Werk hat McLuhan die Verschmelzung bereits hellsichtig vorweggenommen, wenn auch auf anderen Ebenen: „Es ist ein bekanntes Muster der elektrischen Technologie insgesamt: Sie beendet die Dichotomie zwischen Kultur und Technologie, zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Arbeit und Freizeit.“ Präziser lässt sich das digital vernetzte 21. Jahrhundert mit seinem Amalgam der einst sauber getrennten Sphären kaum beschreiben. Und genauso wird auch die Dichotomie zwischen Kohlenstoffwelt und digitaler Welt enden.

Trotz der faszinierenden und vermutet positiven Konsequenzen ist die Frage berechtigt, wo die Gefahren dieses Wandels liegen. Es gibt darauf keine einfache Antwort, denn die Verschmelzung und ihre logische Folge, die umfassende Zugänglichkeit von Informationen anhand des Kontextes, bedroht ganze Branchen. Wer wollte dem Kohlehändler erzählen, die Erfindung der Zentralheizung sei harmlos.

Eine mögliche Gefahr für die Nutzer selbst aber könnte in der persönlichen Beziehung zur „Extension of Man“ liegen. McLuhan hat das mit dem Gleichnis des Narziss beschrieben. Dessen Erweiterung war sein eigenes Spiegelbild, das er für eine andere Person hielt: „Er passte sich an seine eigene Erweiterung an und wurde zu einem geschlossenen System.“ Die Verschmelzung von Netz und Welt könnte es leicht machen, wie Narziss im eigenen Spiegelbild zu ertrinken, weil man dahinter einen Kosmos vermutet – und dann ist es doch bloß ein kalifornischer Ich-Algorithmus, gebaut von sympathischen Angebern.

 

tl;dr

Das Internet der Zukunft und die Kohlenstoffwelt werden so verschmelzen, dass die Unterscheidung schwierig wird.

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