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Die Dagegen-Öffentlichkeit

Im Netz engagiert man sich gegen etwas, nicht dafür, weil das Dagegensein im Netz viel leichter ist, als sich positiv für etwas einzusetzen, beobachtet Sascha Lobo. Und genau dagegen müsse man jetzt ganz dringend etwas unternehmen.

In ihrer vermutlich berechtigten Verzweiflung haben die Konservativen des Landes einen genialen Begriff für die Grünen erfunden: die Dagegen-Partei. Schon auf den ersten Blick ist darin ausreichend viel Wahrheit enthalten, um schwer widerlegbar zu sein. Auch die Entstehungsgeschichte der Partei aus der Protestkultur der siebziger und achtziger Jahre nährt dieses Bild. Und für die grüne Basis erscheint der Begriff höchstens deshalb unpassend, weil er irgendwie auch Geschlossenheit unterstellt. Aber könnte es sein, dass die abwertend gemeinte Bezeichnung Dagegen-Partei in relevanten Teilen der Öffentlichkeit den Grünen gar nicht geschadet hat – sondern sogar genützt?

Eine Spurensuche dazu beginnt mit einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die 2006 in Deutschland neun politische Typen identifiziert hat, darunter die „kritischen Bildungseliten“. Sie sind urban, haben den höchsten Bildungsgrad und die höchsten Anteile an Beamten, Schülern und Studenten. Große Skepsis gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung verbinden sie mit großem Engagement, aber auch mit dem höchsten Haushaltsnettoeinkommen aller neun Typen. Parallelen zur grünen Wählerschaft sind unübersehbar. Eine weitere Parallele drängt sich inzwischen auf: die der Internetnutzung.

Demografisch ähneln die „kritischen Bildungseliten“ stark den Gruppen, die das Netz am intensivsten nutzen. Und das merkt man. Das deutschsprachige Internet ist nicht links, es ist nicht progressiv, es ist nicht revolutionär – es ist dagegen. Das Netz hat sich zu einer dauerstampfenden Empörungsmaschine entwickelt, Neinsagen ist sexy, Neinschreien noch sexier. Positiv scheinendes Engagement muss unter Ironieverdacht gestellt werden, „Und alle so: Yeaahh!“.

Bildung einer Gegenöffentlichkeit

Die wichtigsten politischen Bewegungen im Netz haben in den letzten Jahren über eine ausdrückliche Gegnerschaft funktioniert. 2009 fanden sich per E-Petition 130.000 Gegner der Netzsperren zusammen und kegelten mit hoher Diskurslautstärke Ursula von der Leyens wirres Vorhaben aus der politischen Landschaft. 2010 feierte die digital vernetzte Front die vorm Bundesverfassungsgericht gewonnene Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung. Das mindestens ebenso wichtige Vorhaben „Pro Netzneutralität“ dagegen überschritt kaum die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit.

Auf den ersten Blick scheint 2011 am anderen Ende der politischen Überzeugungen ein positives Engagement das Netz geprägt zu haben: Eine halbe Million Mitglieder zweier Facebook-Seiten unterstützte Ex-Minister Guttenberg. Auf den zweiten Blick stellt sich die Situation anders da. Zum einen inszenierte sich Guttenberg als Galionsfigur gegen den herrschenden Politikstil. Zum anderen formulierte die ausschlaggebende, erste große Facebook-Gruppe ihren Namen geschickt mit dem Sound des Dagegen: „Gegen die Jagd auf Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg“. Bei einer politischen Betätigung von derart homöopathischer Intensität wie einem Klick auf Facebook reicht das aus, um im Netz das diffuse Gefühl einer Gegnerschaft zu stimulieren. Kurzfristig sollte man eventuell aus dem unaufhaltsamen Siegeszug des Dagegen im Web lernen und statt „Pro Netzneutralität“ eine Bewegung „Gegen Datenrassismus“ ins Leben rufen. Mittelfristig aber muss sich dieser Unzustand ändern.

Die wichtigste politische Dimension des Netzes ist, dass jeder publizieren kann. Analog dazu hatten die Neuen Sozialen Bewegungen nach 1968, die schließlich auch zur Gründung der Grünen führten, eine Vision: die Bildung einer Gegenöffentlichkeit. Bisher aber ist das deutschsprachige Internet nicht die ersehnte Gegenöffentlichkeit, sondern bloß eine Dagegen-Öffentlichkeit. Sie definiert sich über gemeinsame Ablehnung politischer Projekte, die außerhalb des Netzes diskutiert und beschlossen werden. Dabei mangelt es nicht an guten und durchdachten Versuchen, konstruktiv mit der Kraft des Internets umzugehen. Leider entwickeln diese Ansätze bisher nicht die Schlagkraft der vielen, vielen Dagegen-Bewegungen. Symptomatisch dafür ist der ehrenvolle Versuch der Piraten, das Image der digitalen Protestpartei abzuschütteln. Als sie 2010 eine ausgeklügelte Software vorstellten, die aus den diffusen Diskussionen im Netz politische Arbeitsgrundlagen destillieren sollte, war selbst im politisch engagierten Zirkel der Piraten das destruktive Dagegen stärker. Die Liquid Feedback genannte Plattform wurde zum Symbol der derzeitigen Unfähigkeit des hiesigen Internets zu konstruktiven, politischen Diskussionen und Aktionen.

Die politische Energie im Netz muss ins Konstruktive verwandelt werden

Bei den Meinungsführern des Netzes, den beschriebenen „kritischen Bildungseliten“, hat sich das politische Lebensgefühl des Dagegen manifestiert. Die Kommunikationseffekte der Vernetzung begünstigen das, weil sich Gruppen dagegen wesentlich leichter organisieren und aktivieren lassen als dafür. Seit mindestens fünf Jahren wird zum Beispiel in der überschaubaren, deutschen Blogger-Szene ein Blogger-Verband diskutiert, ohne je der Gefahr einer Gründung auch nur nahegekommen zu sein. Und das in einem Land, in dem das Vorhandensein der Deutschen Schreberjugend (35.000 Mitglieder) niemanden verwundert und der Bundesverband der Deutschen Talg- und Schmalzindustrie (Arbeitskreis Fettschmelzen) in der offiziellen Lobbyliste des Bundestags geführt wird.

Parallelen und Verbindungspunkte zwischen dem grünschimmernden Politprotest und dem deutschsprachigen Netz sind zahlreich: Empörung ist nicht nur Antrieb des neugrünen Wutbürgers, sondern auch der digitalen Dagegen-Öffentlichkeit. Das meistverlinkte deutschsprachige Blog, netzpolitik.org, Auslöser vieler Netz-Empörungswellen, sympathisiert recht offen mit den Grünen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass das grünregierte Epizentrum der Empörung, Baden-Württemberg, von allen Flächenländern die höchste Internetnutzung aufweist, sogar noch vor Städten wie Berlin und Hamburg. Vielleicht ist das verbindende Dagegen-Gefühl von S21 bis Antiatom, durch das Netz organisiert und verstärkt, ein heimlicher, digitaler Grund für den Erfolg der Dagegen-Partei.

Wenn diese Vermutung zutrifft, besteht die kommende Herausforderung darin, die große politische Energie im Netz ins Konstruktive zu verwandeln. Die Politik muss dazu im Internet konkrete Gestaltungsmöglichkeiten schaffen, zum Beispiel in der aus Geldmangel vor sich hinwurschtelnden Kommunalpolitik. Der bürgerlichen Protestkultur reicht abseits der Parteiarbeit offensichtlich die vierjährliche Wahl als Beteiligungsinstrument nicht mehr aus. Die entstehende digitale Gesellschaft braucht – sehr schnell – ein parteiübergreifendes, politisches Konzept für die digitale Demokratie, inklusive geeigneter Plattformen und Technologien. Vor allem aber muss die Netzöffentlichkeit selbst endlich die Kraft und den Mut aufbringen, die bequeme Standard-Gegnerschaft abzulegen. Aus der „kritischen Bildungselite“ muss die „konstruktiv-kritische Bildungselite“ werden.

Anmerkung: Der Autor ist Mitglied keiner Partei, aber politischer Fan des rot-grünen Projekts.

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