
Benzini will es brennen sehen
Es ist zu viel! Die Bilder aus Japan überlasten Sascha Lobos Realitätsempfinden. Beim 250. Video fortgeschwemmter Häuser und der zehnten Vielleicht-Kernschmelze schaltet er innerlich ab, doch dann findet er seine Empathie wieder. Ein Plädoyer gegen die egozentrische Weltsicht.
Sonntagmittag war mein Mitgefühl nahezu aufgebraucht. Ab diesem Zeitpunkt musste ich mir Mühe geben, die aberwitzige Verkettung von Katastrophen in Japan so schlimm zu finden, wie sie zweifellos sind. Krasser noch, ich musste eine sehr unangenehme, innere Stimme unterdrücken, die ich an dieser Stelle aus Gründen der Selbstdistanzierung Benzini nennen möchte, meinen inneren Brandstifter.
Benzini forderte, nicht so herumzueiern und doch bitte endlich mindestens eine von diesen verdammten Kernschmelzen zu Ende zu bringen. Und 200.000 Evakuierte, gerade mal drei Olympiastadien voll, das war doch gestern schon, wo bleibt denn da die Steigerung? Natürlich wollte ich mir die Existenz von Benzini erst nicht eingestehen und habe mich, als er sich nicht mehr leugnen ließ, vor mir selbst geschämt.
Ich empfinde mich als empathischen Menschen. Das Leid anderer berührt mich, ich hege keinerlei Hass gegenüber Japanern. Was war passiert, woher kam Benzini? Etwa 48 Stunden nach Beginn des gesamtmedialen Ausnahmezustands, irgendwann zwischen dem 250. YouTube-Video fortgeschwemmter Häuser und der zehnten Vielleicht-Kernschmelze samt Dementi war mein absolutes Verstörungsmaximum erreicht. Noch schlimmer – das ging nicht.
Mein überlastetes Realitätsempfinden stellte um von Nachrichten auf Hollywood. Das Resultat war Benzini, dasjenige Alter Ego, das mir seit vielen Jahren hilft, mein Abendessen zu genießen, während Arnold Schwarzenegger auf dem Bildschirm ein Massaker anrichtet.
Offenbar ging es nicht nur mir so. Die Entscheidung des ZDF, einen Zusammenschnitt der Katastrophenbilder mit einem TripHop-Song zu unterlegen, muss von einem latenten, aber übermächtigen Wunsch getrieben worden sein, endlich den fehlenden Soundtrack zum Film nachzureichen. Neben der musikalischen Untermalung erinnert auch die Inszenierungsintensität der japanischen Fortsetzungskatastrophe, hin- und hergespiegelt zwischen klassischen Medien und Internet, an den 11. September. Auch dort drängte sich die Filmmetapher auf. In seinem Text „Der Geist des Terrorismus“ nannte Medienphilosoph Jean Baudrillard den Anschlag einen „Katastrophenfilm aus Manhattan“.
Damals ging es Mensch gegen Mensch, vor dem Hintergrund der pervertierten Gedankenkraft: Fundamentalismus, Fanatismus, Terrorismus. Heute geht es Mensch gegen Natur, vor dem Hintergrund der pervertierten Naturgewalten: Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze. Der 11. März ist der 11. September der Natur.
Die Wirklichkeit tut, als sei sie ein Director’s Cut
Baudrillard beschrieb in seinen Medientheorien das Simulacrum, vereinfacht gesprochen: eine nachempfundene Inszenierung, die einem die Realität ersetzt. Der Soziologie-Professor Dmitri N. Shalin, passenderweise von der Universität Las Vegas, skizzierte schon 1996 hellsichtig den Gegenentwurf, das Dissimulacrum: eine Realität, die einem die nachempfundene Inszenierung ersetzt. Genau das ist mein Wahrnehmungsproblem der japanischen Katastrophe. Die Wirklichkeit tut, als sei sie ein Director’s Cut von Roland Emmerich, inklusive Online-Kampagne mit viralen Videoclips. Dem begegnet Benzini mit den gewohnten Mitteln.
Nicht nur mein Benzini, auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit, bestehend aus Politik, Medien, Bürgern, legte ihr Mitgefühl auffallend schnell ab und handelte entschlossen. Weniger für Japan als in eigener, egoistischer Sache. Die Atomfans brachten vorauseilend den Vorwurf der Instrumentalisierung der Opfer. Die Atomgegner konterten geschickt mit dem Vorwurf der Instrumentalisierung des Vorwurfs der Instrumentalisierung der Opfer. Keine hundert Stunden später behauptete Markus Söder höchst wahrheitsflexibel, die CSU sei eigentlich nie so recht mit der Atomkraft warmgeworden. Und Stefan Mappus schaltete praktisch eigenhändig Neckarwestheim I ab.
Die Politik liefert sich einen Wettkampf im Zurückrudern
Die Sportnation Deutschland kann sich große Hoffnungen machen bei der nächsten Weltmeisterschaft im Zurückrudern. Es hätte nur gefehlt, dass der Präsident des Atomforums seine Liebe zur Energiegewinnung durch Torfstechen erklärt. Was es für die Glaubwürdigkeit der Politik bedeutet, wettabschalten zu spielen mit den eben noch alternativlosen, unverzichtbaren Atomkraftwerken, bietet sicher viel Stoff für interessante Doktorarbeiten.
Während dieser zielgerichteten Diskussion hatte Mitgefühl wenig Platz in den Köpfen, aber viel Platz in den Sätzen, vor allem denen der handelnden Politik. In ritualisierten Floskeln wurde eine Mischung aus Empathie und Pathos ausgegossen, man könnte sie Empathos nennen, obwohl man hier fairerweise jedem Politiker Ernsthaftigkeit unterstellen muss.
Vielleicht war neben der Katastrophenfilmhaftigkeit auch ein Grund für das Auftauchen meines Zündlers Benzini, dass die hundertste „Anteilnahme mit den Betroffenen dieser unbeschreiblichen Naturkatastrophe“ hohl klingt, egal wie sehr sie von Herzen kommt. Das Mitgefühl in Zeiten seiner multimedialen Reproduktion. Vor einem guten Jahr hat Jeremy Rifkin das Buch „Die empathische Zivilisation“ veröffentlicht, in dem er seine Hoffnung ausführt, Empathie funktioniere als Basis einer zukünftigen Gesellschaft. Die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf das japanische Atomdebakel – online wie offline, von Atomkraftgegnern wie von -befürwortern – und leider auch mein Benzini machen mir nicht unbedingt Mut.
Zu wenig Information nährt die zynische Weltsicht
Irgendwann am Dienstag verstummte mein Benzini einerseits zum Glück, andererseits – leider. Die Ereignisse hatten wieder eine Eindrücklichkeit erreicht, die die selbst vorgetäuschte Abgeklärtheit verschwinden ließ. Meine Empathie hatte sich aber auch erneuert, weil die mediale Überinszenierung der Katastrophe ein Informationsvakuum mit verzögerter Wirkung erzeugt hatte. In den ersten Tagen hat man Verständnis dafür, dass nicht immer alle Daten in chaotischen Situationen verfügbar sind.
Irgendwann aber wird die Diskrepanz zwischen zu bewältigenden Bildern und erklärenden Informationen schwer erträglich. Die nach westlichen Maßstäben dramatisch verkorkste Informationspolitik Japans ist nach Guttenberg innerhalb weniger Wochen das zweite, sensationelle Scheitern der im 20. Jahrhundert so erfolgreichen Salamitaktik. Der provozierte Mangel an Information erscheint mir als idealer Nährboden für den entertainmentorientierten, empathieunterdrückenden Benzini, der sich logischerweise sehr für Bilder interessiert, aber wenig um Fakten schert.
Benzini ist auch eine Bewältigungsstrategie der nur scheinbaren Informationsüberfülle. In der Werbeforschung nennt sich das Benzini-Verhalten Reaktanz: Die tausendste Werbeanzeige wirkt plötzlich kontraproduktiv, egal wie witzig, informativ oder nützlich Werbung und Produkt sind. Aber explodierende Atomkraftwerke provozieren sehr drängende Fragen, Baudrillard hin, Benzini her.
Benzini ist in mir entstanden, weil das verwerfliche Herbeisehnen der verdammten Kernschmelze eigentlich ein Herbeisehnen von Klarheit ist. Insofern hat sich zumindest für mich – abseits von Medientheorien – gezeigt, dass Benzini, also die zynische, egozentrische Sicht auf die Welt, nicht durch zu viel Information zustande kommt, sondern durch zu wenig.