
Die kommende Virtualisierung
Technikkritiker und Hardcore-Nerds können aufatmen: Sie müssen keine Angst vor virtuellen Datenspeichern haben. An andere virtuelle Systeme mit weitaus dramatischeren Folgen hat sich die Menschheit schließlich auch gewöhnt: an die Zeit und an das Geld.
Im Streamgetöse des technologischen Alltags wird eine wichtige Frage selten gestellt, weil sie längst zu einer Karikatur ihrer selbst geworden ist: Wo soll das alles nur enden? Aber nur, weil sich diese Frage schon beim Lesen anhört, als sei sie mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen gekreischt, ist sie noch lange nicht dumm. Zumindest nicht ausformuliert: In welche Richtung bewegt sich der Fortschritt, und zu welchem Ziel soll das führen?
Die Frage nach der Richtung lässt sich beantworten: Der durch die digitale Vernetzung beschleunigte Großtrend ist die Virtualisierung. Jede neue Entwicklung im Netz virtualisiert neue Bereiche der Gesellschaft, zuletzt waren es die sozialen Medien, die zwischenmenschliche Beziehungen virtualisiert haben. Und natürlich steht die Frage im Raum: Wenn Facebook alle Daten löscht – wie viele Freunde habe ich dann noch? Nichts ist vor der Virtualisierung sicher, IBM plant offenbar, das gesamte Unternehmen in eine virtualisierte Arbeitswelt zu überführen.
Selbst die ohnehin schon virtuell anmutende, klassische, digitale Datenverarbeitung erfährt eine nochmalige Virtualisierung, indem sie in die Cloud verschoben wird. Der Begriff Cloud steht zwar gleichzeitig für ein technologisches und ein Marketing-Konzept und wird dadurch sehr unscharf – tatsächlich aber stellt die Verschiebung und Verarbeitung von digitalen Daten auf entfernte Serverstrukturen das gegenwärtige Krönchen der Virtualität dar: Nichts ist noch weniger greifbar als digitale Daten in der Cloud, nichts ist weiter entfernt und damit weniger physisch als die fließenden Magnetladungen, von denen sich nicht einmal sicher sagen lässt, auf welchem Kontinent sie sich befinden.
Mustergültig zeigt die derzeitige Entwicklung der digitalen Sphäre hin zur Cloud, dass auch Experten emotionale Probleme mit der Virtualisierung haben können: Jedem fundamentalistischen Nerd steigt die Stressröte ins Gesicht, wenn er seine Daten auf fremde Serverlandschaften übertragen soll, von denen niemand weiß, wo sie stehen. Dabei wird deutlich, dass die zunehmende Virtualisierung durch Technologie auch eine Frage des gefühlten Kontrollverlustes ist. Gefühlt, weil etwa Daten auf einer heruntergefallenen Festplatte für die allermeisten Leute ebenso weit entfernt sind wie auf einem defekten Server in Kalifornien; der Kontrollverlust ist längst geschehen, er erfährt nur neue Ausprägungen.
Es scheint, als bestünde Virtualität zwangsläufig aus Bits
Man könnte leicht den Fehler machen, die technische Kreation von Virtualität für ein Kind des digitalen Zeitalters zu halten. Natürlich erleichtern Computer die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft insgesamt zur Virtualität hin bewegt. In Fassbinders Film „Welt am Draht“ – scheinbar schamlos bei den „Matrix“-Filmen der Wachowski-Brüder abgekupfert – findet sich die computergenerierte, verschachtelte, virtuelle Realität als zentrales Thema.
Es scheint, als bestünde Virtualität zwangsläufig aus Bits und Bytes. Aber was ist das Wesentliche der technisch erzeugten Virtualität, was eint alle ihre Formen? Eine Maschine, die Informationen verarbeiten kann, ein Interface – und der Rest spielt sich in den Köpfen ab. Ärgerlicherweise hat die übergroße Fixierung auf Technologie dazu geführt, dem technischen Teil fast alle Aufmerksamkeit zu widmen und denjenigen Teil der Virtualität zu vernachlässigen, der in den Köpfen stattfindet.
Aber die Virtualität durch die Maschine ist viel älter, sogar älter als das binäre System selbst. Der Universalgelehrte Lewis Mumford hat die Wirkungen der ersten virtualitätsschaffenden Maschine 1934 in „Technics and Civilisation“ beschrieben. Es handelt sich um die Uhr, deren Einfluss auf die nachfolgenden Epochen Mumford für größer hält als den der Dampfmaschine. Die Erschaffung der Uhrzeit war das erste virtuelle System, das eine Maschine der Gesellschaft überstülpen konnte. Und es ist bis heute das unerbittlichste, wie jedes gnadenlose Weckerklingeln aufs Neue beweist.
Die Uhr veränderte das Leben der meisten Leute der westlichen Welt in größtem Ausmaß und tut das bis heute. Dabei ist die Uhrzeit vollständig virtuell, ausgedacht, künstlich erschaffen zur Ergänzung der natürlichen Zeitmessung wie Tag und Nacht. Und wie jede anständige Virtualität ist die Uhrzeit nichts wert und wirkungslos, wenn man sie als Idee nicht akzeptiert oder wenn man nicht über die entsprechenden Interfaces wahrnimmt, weil sie nicht physisch ist, nicht greifbar – virtuell eben.
Gefühlter Kontrollverlust ist eine Frage der Gewöhnung an Technik
Und mit einem Mal wird klar, dass die Gesellschaft sich seit Jahrhunderten auf virtuelle Systeme verlässt. Dass der gefühlte Kontrollverlust, der im Zusammenhang mit dem Internet vielen Angst macht, bloß eine Frage der Gewöhnung an Technologie ist. Oder eine Frage der Verdrängung. Geld auf dem Konto ist nichts anderes als eine der frühesten Cloud-Funktionen und gleichzeitig höchst virtuell wie auch weltbestimmend. Wer weiß schon, wie und wo das eigene Geld gespeichert ist, nur ein wackeliger Vermerk, eine kleine (seltener: große) Zahl auf irgendeinem Server, der man sich nur durch ein Interface überhaupt nähern kann und die so fragil scheint wie alle Virtualität.
Wenn man sich klarmacht, dass mit der Uhrzeit und dem seltsamen Konstrukt Geld zwei der unerbittlichsten virtuellen Systeme sowieso schon die Welt beherrschen – dann muss man auf vergnügt fatalistische Weise kaum mehr Angst haben vor der weiteren Virtualisierung von allem. Denn sie wird kommen.
In „Welt am Draht“, immerhin von 1973, bricht unerwartet die virtuelle Welt in die vermeintlich echte Welt ein (in Form einer virtuellen Figur namens Einstein) – und genau das passiert im Moment. Aktuell machen Gerüchte die Runde, dass Google an einer Brille als digitalem Interface arbeitet. Eine israelische Firma entwickelt seit Jahren entsprechende Konzepte und hat Anfang 2012 einen Prototypen in Las Vegas vorgestellt. Das MIT-Projekt „Sixth Sense“ von Pranav Mistry besteht aus einem tragbaren Projektor samt Kamera sowie einem mobilen Computer mit Netzzugang, der über Gesten gesteuert wird. Mit diesen technischen Konzepten unter dem Sammelbegriff Augmented Reality wird die Welt selbst in ein Interface verwandelt: Die Virtualität verschmilzt kaum mehr unterscheidbar mit dem, was man als Realität bezeichnet.
Wo soll das alles nur enden? Die Virtualisierung wird niemals enden. Wir können ihr nicht entkommen, und sie wird den meisten Leuten als normale Realität erscheinen, unabhängig davon, wie weit sie in die Kohlenstoffwelt eingedrungen ist. Denn Virtualisierung ist nur ein anderes Wort für Fortschritt.
tl;dr
Virtualisierung ist Fortschritt ist Virtualisierung – und es gibt keine natürliche Grenze dieser Entwicklung, sondern nur willkürliche.